Finanzkrise Es lebe die Spekulation!

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Frankfurter Bankenviertel: Fundamentales Umdenken als Folge der Krise Quelle: DPA

Dennoch hatten die Großbauern einen wunden Punkt der Spekulation getroffen. Das Verhältnis von effektivem Warenumsatz zu Differenzgeschäften stand an der Berliner Getreidebörse bereits in den 1860er-Jahren bei 1 zu 20. Ein zeitgenössisches Lexikon stellte fest, dass Differenzgeschäfte sich „sehr stark dem Hasardspiel und der Wette“ näherten.

Einen Weg aus der Kontaminierung der Spekulation durch das Glücksspiel wies dann 1894 Max Weber. Er wollte den Kleinspekulanten von der Börse ausschließen weil er „keinen volkswirtschaftlichen Zweck“ erfülle: „Das, was für ihn an Verdienst abfällt, zahlt die Volkswirtschaft ganz unnötigerweise an einen überflüssigen Schmarotzer.“

Weber ging es darum, die Spekulation als ökonomische Fakultät zu rehabilitieren. Seine Strategie hatte bis zuletzt Erfolg: Die Selbstbestimmung der Finanzmärkte als „Preisproduzenten“ und „kollektive Intelligenz“ von Marktteilnehmern, die als „Auge der Ökonomie“ künftige Risiken einschätzen und Knappheiten anzeigen, wurde erst erschüttert, als Anfang dieses Jahres die Rohstoff- und Nahrungsmittelpreise explodierten und Ende des Jahres die Finanzmarktkrise das Vertrauen in die „unsichtbare Hand“ des Marktes untergrub.

Das Schöne an beiden Krisen ist, dass sie ziemlich genau die Grenze zwischen nützlicher und schädlicher Spekulation beschreiben – und das heißt: zwischen einer Spekulation, die künftige Risiken beobachtet und bearbeitet – und einer Spekulation, die Risiken versteckt und verkleidet.

Auf dem Höhepunkt der „Hungerhausse“ im Juni 2008 forderte ausgerechnet Ex-Großspekulant George Soros, Geschäfte an Warenterminmärkten einzuschränken. Hintergrund waren die dramatisch angestiegenen Rohstoff- und Lebensmittelpreise: Der Ölpreis hatte sich seit 1998 versechsfacht; der Reispreis binnen Jahresfrist verdreifacht, Weizen fast verdoppelt.

Auf der Suche nach Schuldigen zeigte man auf Chinesen (gestiegene Nachfrage), Amerikaner und Europäer (Preistreiber Biosprit) – und auf die Spekulanten weltweit, die Anlegergeld preistreibend in Rohstoff- Zertifikaten handelten.

Tatsächlich sind die Rohstoffmärkte heute so eng verbunden mit den Finanzmärkten wie noch nie. Der Terminhandel mit Öl hat sich seit 1998 versiebenfacht, der Börsenumsatz mit Optionen auf Weizen verfünffacht. Hatten Non-Commercials – Spekulanten ohne Interesse an Verbrauch oder Lagerung von Rohstoffen – 2004 noch 15 Milliarden Dollar im Markt investiert, so stecken vier Jahre später rund 300 Milliarden in Indexpapieren. Hedgefonds und US-Pensionskassen suchten auf den Rohstoffmärkten hohe Renditen und nährten die Hausse.

Versteckte Risiken waren an konkrete Kreditversprechen geknüpft.

Heute sind die Preise wieder unten – und die Ansicht setzt sich durch, dass die Spekulanten allenfalls als Verstärker des Trends, nicht als dessen Auslöser wirkten: Sie trieben die Preise, sie verursachten sie nicht. Nach sechs Jahren Rekordwachstum zahlte die Weltwirtschaft den Preis für zunehmend knappe Güter – und die Spekulanten machten uns darauf schmerzlich aufmerksam.

Grundsätzlich gilt: Weil das Geschäft des Spekulanten im Ausnutzen von Preisdifferenzen besteht, er also an Kursschwankungen verdient und nicht nur an Kurssteigerungen, korrigiert er seine Übertreibungen systembedingt selber. Es gehört daher zu den Vorzügen des Derivatehandels, dass er langfristig zur Mäßigung und Stabilisierung von Märkten beiträgt, die kurzfristig zum Überschießen neigen. Kurzum: Die Spekulation als Marktbeobachtung erfährt im Derivatehandel ihre – in Einzelfällen zu regulierende – Verfeinerung.

Die Grenze zum Schwindel wird erst überschritten, wenn die Spekulation ihre Beobachterposition einbüßt, Risiken verschleiert und sehenden Auges in die Krise steuert – beispielsweise durch den Vertrieb von undurchsichtigen Kreditverbriefungen. So gesehen, unterscheidet sich die Finanzmarktkrise von den legendären Kanalbau-, Eisenbahn- und Internet-Blasen.

Im Gegensatz zu jener entfesselten die historischen Spekulationswellen Innovationszyklen, die von realwirtschaftlichen Erwartungen getrieben waren. Als die Blasen platzten, hat das vielen Anlegern wehgetan, aber ihr offensichtliches (!) Risiko war an Gewinnerwartungen geknüpft: Anlegerpech. Bei der Finanzmarktkrise war es genau umgekehrt. Hier waren versteckte (!) Risiken an konkrete Kreditversprechen geknüpft. Vor allem aber stand hier keine Innovation am Ende einer Krise. Sondern eine Krise am Ende der Innovationen.

Der britische Kaufmann und Schriftsteller Daniel Defoe hat seine Spekulationskritik („Täuschung und Lüge“) 1719 unter dem Eindruck der Südsee-Hausse verfasst, einer der ersten Spekulationsblasen der Moderne.

Die Lektüre ist bezwingend, denn Defoe ging es darum, die transparente Welt des Handels und Kreditwesens trennscharf abzugrenzen gegen „unverantwortliche Menschen“ und ein wohlgeordnetes Wirtschaftssystem zu schützen vor dem Voluntarismus einiger, die nach Lust und Laune Preise tanzen und Kurse tollen lassen.

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