Aktienindex zur Nachhaltigkeit „Von 71 Unternehmen bleiben 27 unter der Temperatur-Obergrenze“

RWE-Kohlekraftwerk bei Weissweiler: nur 27 von 71 geprüften Unternehmen halten ihre Klima-Obergrenzen ein. Quelle: imago images

Ein neuer Aktienindex bündelt 260 europäische Unternehmen, die das UN-Klimaziel von zwei Grad Erderwärmung erreichen. Wie die Nachhaltigkeit von Unternehmen gemessen wird und welche Tücken die Daten haben.

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Der Einfluss von Unternehmen auf das Klima wird in der Nachhaltigkeitsdebatte immer wichtiger. Jetzt gibt es aus Frankfurt einen Aktienindex, der 260 europäische Unternehmen bündelt, die zusammen das UN-Klimaziel einer Erderwärmung von maximal zwei Grad erreichen. Die Temperaturauswertungen zu den einzelnen Unternehmen stammen vom Fintech right., den Index setzt der Indexbauer Solactive aus Frankfurt zusammen. Right. berechnet, um wie viel Grad sich die Erde erwärmt, wenn alle Unternehmen bis 2050 so viele Emissionen ausstoßen würden wie die in der jeweiligen Untersuchungsgruppe. Die erlaubten Zielwerte sind je nach Branche verschieden. Telekommunikation als relativ emissionsarme Technologie hat die Zieltemperatur 1,4 Grad, Stromerzeugung dagegen 6,5 Grad. Im so gebildeten „Solactive right. 2 degree-aligned Europe Index“ stecken zum Beispiel die Aktien von Volvo, Deutsche Post, Daimler, Axa und Telefónica. Aktuell nicht enthalten sind etwa Deutsche Telekom, SAP, AB InBev, Nestlé, Airbus, Volkswagen und Lufthansa. Die Unternehmen überschreiten ihre branchenspezifischen Obergrenzen und reißen damit das Zwei-Grad-Celsius-Ziel des Pariser Klimaschutzabkommens. Unter den Pharmaherstellern schafft es nur Novo Nordisk in den Index. Stärkste Branche sind IT-Dienstleister. Wie die Bewertungen zustande kommen und welche Aussagekraft sie besitzen, beschreibt die right.-Geschäftsführerin Hannah Helmke im Gespräch mit der WirtschaftsWoche.

WirtschaftsWoche: Frau Helmke, tut der Stillstand durch Covid-19 zumindest in punkto Klimaschutz der deutschen Wirtschaft gut? Die Emissionsdaten müssten doch sehr stark sinken?
Hannah Helmke: Wer denkt, dass Corona gut fürs Klima ist, der wird enttäuscht. In den Klimaprojektionen geht man davon aus, dass durch Corona die Emissionen weltweit um etwa acht Prozent zurückgehen. Um das Ziel zu erreichen, dass sich die Erde in den nächsten Jahren nur um 1,5 Grad erwärmt, bräuchten wir einen Rückgang von 7,6 Prozent – allerdings jährlich, bei voll ausgelasteter Wirtschaft und nicht in einem Shutdown-Modus. Reduzieren sich die Emissionen, aber sinkt gleichzeitig auch die Auslastung der Wirtschaft, dann ist das kein Umbau der Wirtschaft, den wir aber brauchen – langfristig geht also an mutigen Maßnahmen für Einsparungen und Klimaschutz kein Weg vorbei.

Hannah Helmke studierte Psychologie und Wirtschaft in Osnabrück und Köln, arbeitete bei einer Beratungsfirma an Nachhaltigkeitsfragen und gründete 2016 zusammen mit Sebastian Müller in Frankfurt das Unternehmen right. based on science., das den Frankfurter Gründerpreis gewann. Sie analysieren die Klimaauswirkungen von Unternehmen, Portfolios oder Indizes mit Ihrem X-Degree Compatibility („XDC“) Modell, nach wissenschaftlichen Erkenntnissen. Das XDC Modell bietet Unternehmen die Möglichkeit, etwa künftige Investitionen auf ihre Klimawirkung zu simulieren. Im vergangenen Jahr war Helmke vom US-Außenministerium im Rahmen des International Visitor Leadership Program zu Besuch bei kalifornischen US-Start-ups und nahm dort am Global Entrepreneurship Summit teil. Quelle: PR

Warum ist die Auslastung der Wirtschaft wichtig?
Unsere Berechnungen bei right. beziehen sich immer darauf, wie viele Emissionen freigesetzt werden, um eine Bruttowertschöpfung von einer Million Dollar zu erreichen. Das ist in unseren Augen ein international vergleichbarer Maßstab. Wichtig ist, dass sich die Wertschöpfung von den Emissionen entkoppelt – dass sie also ansteigen kann, ohne dass dabei der Emissionsausstoß ebenfalls zunimmt. Alles andere ist langfristig für die Umwelt nicht gut und dementsprechend für die Unternehmen auch nicht.

Worauf basieren die Zahlen?
Bei den Emissionen arbeiten wir aktuell mit Daten aus 2018. Die Erhebung und Veröffentlichung von Emissionsdaten ist immer etwas zeitverzögert, weil dies insbesondere bei Konzernen weltweit aufwendig ist. Berücksichtigt werden die direkten Emissionen aus dem Unternehmen selbst und die indirekten Emissionen aus der eingekauften Energie sowie aus der vor- und nachgelagerten Lieferkette. Man spricht hier von ‚Scope 1, 2 und 3‘ Emissionen. Bei der Bruttowertschöpfung haben wir eigentlich schon aktuelle Quartalszahlen für 2020, aber die kann man dann nicht mit den alten Emissionsdaten verknüpfen. Die Klimadaten aus 2020 werden durch die Coronakrise natürlich aus der Reihe fallen. Diese Ausnahmesituation und ihr Effekt auf die Temperatur des Unternehmens lässt sich in unserem Modell gut abbilden.

Wie beurteilen Sie die jetzt üppigen Rettungspakete der Regierungen aus Sicht des Klimaschutzes?
In der ersten Welle der Unterstützung ging es um die Rettung der Arbeitsplätze und Unternehmen. Da ist es okay, dass erst einmal sozusagen Erste Hilfe geleistet wurde – ohne viele Konditionen. In der zweiten Runde sollten aber Coronahilfen einer Bestandsaufnahme zur Nachhaltigkeit folgen und die Hilfen daran geknüpft werden, welche Signale es von den Unternehmen zu einem nachweislich zielführenden Umbau in Richtung der Pariser Klimaziele gibt.

von Martin Seiwert, Stefan Hajek, Benedikt Becker, Silke Wettach

Sie haben Dax-Unternehmen und auch weltweite Autobauer der Temperaturanalyse unterzogen und danach einen BMW Elektro-Mini als Dienstwagen gekauft. Warum?
Unser Dienstwagen ist ein Mini-Hybrid geworden, nach einem halben Jahr Recherche. Daimler, BMW und VW sowie aber auch die asiatischen Anbieter standen zur Wahl. Der BMW Mini Hybrid konkurrierte also etwa mit dem i3 von BMW und auch mit Toyota Prius Die deutschen Premiumhersteller haben tatsächlich nach der Logik unseres Temperaturmodells im Vergleich zu asiatischen Herstellern niedrigere Emissionen im Verhältnis zu ihrer hohen Wertschöpfung. Sie setzen also ihre Energie effizienter ein. Ob das weiterhin so bleiben wird, wenn sie jetzt immer mehr SUV verkaufen, wird sich zeigen. Noch basieren die Emissionsdaten auf dem Jahr 2018, neuere Erhebungen und Angaben gibt es meist noch nicht flächendeckend.

Richtig überzeugt klingen Sie nicht.
Die Probleme der Hybrid-Fahrzeuge hat ja die Titelgeschichte der WirtschaftsWoche kürzlich beleuchtet und dass es da um eine Mogelpackung geht, war uns bewusst. Die Batterien halten nicht das, was versprochen wird, die Fahrzeuge sind zu schwer, sie fahren zu wenig elektrisch. Unterm Strich und in Kombination aller Faktoren seien Hybride damit sogar schlimmer als Benziner und die Fördergelder sollten in Richtung voll elektrische Autos gehen, war die Forderung der WiWo. Ich kann das Resümee gut nachvollziehen. Die Entscheidung für den Plug-in Mini bereue ich damit nicht, denn unsere Leasingzeit ist extra sehr kurz, bis dahin sollte die Batterie uns gute Dienste erweisen und muss dann vom Hersteller zurückgenommen werden. Aufgrund der Zurücknahme sind Hersteller incentiviert, Batterien umweltschonender und besser zu bauen, das erhöht deren Wert, wenn sie sie zurücknehmen. Für lange Strecken nutzen wir das Auto nur in Ausnahmen und sonst den Zug. Das Auto wird nach jeder Fahrt an die Steckdose gehängt. Elektrisch fahren macht zu viel Spaß, als dass wir das vergessen würden. Ich hoffe, dass die Unternehmen in zwei Jahren klare und effektive Klimastrategien haben und wir uns langfristig entscheiden können.

Niedrige Klimaauswirkungen sollen vor Konkurrenz aus Asien schützen

Die Datenlage zu Klimathemen ist trotz dicker Nachhaltigkeitsberichte nicht optimal, höre ich das bei Ihnen richtig heraus?
Nachhaltigkeitsberichte der Unternehmen sind teils sehr opulent und komplex, aber die entscheidenden Daten oder Fragen bleiben häufig unadressiert. Vieles, was da berichtet wird, bräuchte man nicht. Bestimmte Daten, zum Beispiel die angestrebte jährliche Emissions-Reduktionsrate, sind in der Klimadebatte wichtig. Die haben wir häufig nicht gefunden und nachgefordert von den Unternehmen. Allerdings sollten Unternehmen sich bereits darauf einstellen, dass sie in Zukunft berichten müssen, wie sehr sie zum Klimawandel beitragen. Unser XDC Modell ist das einzige, das zur Berechnung dieses Beitrags, den wir direkt in einer Grad Celsius Zahl ausdrücken, ein anerkanntes Klimamodell einsetzt. Dadurch bieten wir robuste Ergebnisse für die regulatorische Compliance.

Wer nutzt das?
Strategische Partner und Kunden sind die Bochumer GLS Bank und der Vermögensverwalter Salm-Salm & Partner. Die Bank etwa beurteilt, wie sich ihr Kreditportfolio oder das Anlageportfolio mit Staatsanleihen auf ihren Klimabeitrag auswirkt. Dabei werden auch Temperaturanalysen für Immobilien und einzelne Mitarbeiter relevant. Etwa wenn es viele Pendler gibt, kann das Auswirkungen haben und man kann ihnen Angebote für den öffentlichen Nahverkehr machen oder andere Dienstwagen anschaffen, um den Klimabeitrag zu verringern. Die Wirkung lässt sich sogar bis runter zum Kantinenessen transparent machen.

Würden alle Unternehmen so wirtschaften wie Lufthansa, würde sich die Welt um 3,6 Grad erwärmen. Halten Sie die Lufthansa für verzichtbar?
Die Frage, ob die Lufthansa als Unternehmen verzichtbar wäre, kann ich nicht beurteilen. Man sollte aber überlegen, wie man ein solches Unternehmen aktiv in einen nachweisbar klimafreundlichen Umbauprozess lenkt. Da reicht es nicht zu sagen, dass die heutigen Triebwerke besser sind als ältere. Firmen, die Gestaltungskraft beweisen, sind sicherlich nicht verzichtbar. Aber Flüge zwischen Frankfurt und Stuttgart sind es.

Wie verdienen Sie mit Ihren Analysen Geld?
Einer unserer großen Kunden und strategischer Partner ist Continental, mit denen wir das XDC Modell weiterentwickeln. Sie nutzen das als Möglichkeit, um ihre Klimastrategie voranzutreiben und glaubwürdig nach außen zu kommunizieren. Auch andere Dax-Konzerne sind Kunden. Es gibt viel Neugier, weil die strategische Relevanz des ‚Climate Impact‘, also der Klimaauswirkungen, erkannt wurde. Die Unternehmen tasten sich vor. Sie haben den Anreiz, dass ein niedrigerer Climate Impact sie gegen die Hauptkonkurrenz aus Asien schützt, die noch nicht so weit ist. So haben sie eine Chance gegen deren aggressive Kostenstrategie.

Wie viele Unternehmen erreichen das zwei Grad Ziel in Deutschland und wer hat keine Chance, in den Index aufgenommen zu werden?
Von den 71 deutschen Unternehmen, die wir in diesem Fall analysiert haben, bleiben 27 unter der Temperatur-Obergrenze, die nach einem Szenario der Internationalen Energieagentur nicht überschritten werden darf, wenn wir die Erderwärmung auf unter zwei Grad begrenzen wollen. Dabei ist wichtig: diese Zieltemperatur liegt nicht für alle Sektoren bei 2 Grad. Stattdessen müssen besonders emissionsarme Sektoren die emissionsintensiveren ausgleichen. Telekommunikation hat in diesem Szenario zum Beispiel eine Zieltemperatur von 1,4 Grad. Für die Stromerzeugung sind es aber 6,5 Grad.

Amerikaner haben sich um Nachhaltigkeitsanalysen lange nicht gekümmert, kaufen jetzt aber alle europäischen Unternehmen in dem Bereich auf, in Europa ist nur noch Imug selbstständig. Haben Amerikaner auch schon bei Ihnen angeklopft?
Wir sind das letzte Unternehmen für Temperaturanalysen, das noch unabhängig am Markt ist. Die Konzentration in der Branche ist ein Problem. MSCI ist unser Hauptkonkurrent, da kann man schon mal den Kopf einziehen. Ich war 2019 drei Wochen von der US Regierung eingeladen, um mit einer internationalen Gruppe die verschiedenen Start-up-Hubs in den USA zu besuchen. Das war schon sehr beeindruckend und etwas ernüchternd, wieder nach Frankfurt zurückzukommen. Aber ich habe dort auch viel gelernt über Open Source-Ansätze, dass sich Mut zur Offenheit lohnt, wenn man das gut macht. Ab 2021 wollen wir unseren Quellcode als Open Source-Projekt anbieten. So gehört die grundlegende Methodik allen, was die Verbreitung als Standard für die Messung von Klimaauswirkungen erleichtert. Das ist unsere Philosophie, damit mehr Gelder in die richtige Richtung fließen.

Aber wenn Bill Gates das mit Microsoft gemacht hätte, dann wäre er jetzt nicht so reich?
Viele seiner Erfindungen auch die von Google, Amazon basieren auf Open Source Technologien, die sie verbessern. Das ist ein bewährtes Konzept. Schwierig ist es, genug Leute zu begeistern, um das weiterzuentwickeln. Wir würden uns sehr freuen, wenn sich viele andocken. Wir haben einen Entwicklungsvorsprung von fünf Jahren, was die Software und die Integration anerkannter klimawissenschaftlicher Erkenntnisse angeht. Da das nicht trivial ist, gehen wir davon aus, dass wir noch einen Vorsprung behalten können. Es gibt die Open Source Climate Foundation, ein Projekt der Linux Foundation, die auch die Allianz und Standard &Poor‘s als Unterstützer gewonnen hat. Denn ein globales, komplexes Problem wie der Klimawandel ist zu schwierig für einen Anbieter allein. Nur gemeinsam bekommt man die Wucht, um die Klimaziele des Pariser Klimaabkommens zu erreichen. Hier braucht man keinen Wettbewerb der Black-Boxes, man braucht den Wettbewerb dazu, wie man das beste Resultat erreicht. Das Marktpotenzial sollte sich deutlich zeigen.

Geht die EU-Regulierung in die Richtung, dass auch kleinere Anbieter eine Chance haben?
Ja, man hat beispielsweise in Bezug auf die Rating-Agenturen erkannt, dass man Diversität unterstützen muss. Es wäre gut, wenn sich dies auch beim Aufbau von klimabezogenen Regularien fortsetzt.

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Europäische Union und nationale Aufseher setzen auf Nachhaltigkeit, Investoren wollen ihre Portfolios vor Klimarisiken schützen. Davon profitieren Agenturen, die die Nachhaltigkeit von Unternehmen bewerten – mitunter ziemlich willkürlich und irreführend.

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