Nach dem Verlust ihrer Parlamentsmehrheit sucht die Partei AKP des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan mit Hochdruck nach einem Koalitionspartner. Der von der Opposition teils scharf kritisierte Erdogan sagte, alle Parteien müssten auf Stabilität und eine Wahrung des Vertrauens in die Türkei achten. Nach dem Verlust ihrer absoluten Mehrheit bei der Parlamentswahl steht die islamisch-konservative AKP vor einer schwierigen Regierungsbildung. Laut vorläufigen inoffiziellen Ergebnissen kam sie auf rund 41 Prozent der Stimmen - nach knapp 50 Prozent vor vier Jahren.
Scheitern die Koalitionsverhandlung, so ein Regierungsmitglied, drohen Neuwahlen. Dementsprechend sorgte der Wahlausgang am Finanzmarkt für Verunsicherung. Die Börse in Istanbul reagierte mit herben Verlusten, die Landeswährung stürzte auf ein Rekordtief zum Dollar.
Der Istanbul-100-Index rutschte nach Bekanntwerden des Wahlergebnisses gleich zur Eröffnung um 8,15 Prozent auf 75.268 Punkte ab und damit auf den niedrigsten Stand seit Oktober 2014. Unter anderem wurden Bankenwerte schwer in Mitleidenschaft gezogen.
Zum Wochenauftakt war auch die türkische Lira im Handel mit dem US-Dollar um 5,40 Prozent gefallen und hatte ein neues Rekordtief erreicht. Für einen Dollar mussten am Morgen knapp 2,80 Lira gezahlt werden - so viel wie noch nie. Experten der Commerzbank rechnen in den kommenden Tagen mit stärkeren Kursschwankungen bei der Lira.
Die Wahlniederlage von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan sorgte ebenfalls für Turbulenzen bei Staatsanleihen, die klare Verluste hinnehmen mussten. Im Gegenzug ging es mit den Renditen nach oben – wie immer, wenn die Risiken für Anleger deutlich gestiegen sind.
Wissenswertes über die Türkei
In der Türkei leben rund 77 Millionen Einwohner. Das Bevölkerungswachstum beträgt 1,1 Prozent. 82 Prozent der türkischen Bevölkerung ist jünger als 54.
Das nominale BIP beträgt 767,1 Milliarden US-Dollar. Bis 2015 wird es auf 820,09 Milliarden ansteigen, prognostizieren Analysten. Zum Vergleich: Das deutsche BIP betrug 2013 3,51 Billionen US-Dollar. Die stärksten Wirtschaftszweige der Türkei sind das verarbeitende Gewerbe, Verkehr und Nachrichtenübermittlung, Handel und Land- und Forstwirtschaft, die jeweils rund ein Zehntel zur BIP-Entstehung beitragen.
Die Türkei konnte in den letzten zehn Jahren (2004 bis 2013) mit einem durchschnittlichen Wirtschaftswachstum von unglaublich 4,9 Prozent aufwarten. Die Türkei musste nach der Finanzkrise 2009 eine starke Rezession hinnehmen: Die Wirtschaft schrumpfte um 4,83 Prozent. Nachdem sie in den beiden Folgejahren jeweils um die neun Prozent wuchs, war das Wachstum zuletzt eher enttäuschend. 2012 wuchs sie nur um 2,17 Prozent.
Die Staatsverschuldung der Türkei beträgt 36,4 Prozent des BIP.
Die Inflationsrate liegt 2014 bei 7,8 Prozent. Im folgenden Jahr soll sie Prognosen zufolge auf 6,5 Prozent fallen.
2013 lag die Arbeitslosenquote bei 9,7 Prozent. Bis 2015 soll sie auf 10,6 Prozent ansteigen.
2011 lag der monatliche Durchschnittslohn bei rund 700 Euro – bis 2013 stieg er auf rund 900 Euro an.
Einige Anlageexperten schöpfen jedoch schon wieder Hoffnung. Erdinç Benli etwa, Fondsmanager und Schwellenländerexperte bei GAM, hält das Bewertungsniveau der türkischen Aktien nach den Kursrückschlägen, die schon im Vorfeld der Wahlen eingesetzt hatten, nun für attraktiv. „Allerdings sollte dies nicht als Freipass gesehen werden – ein selektives Vorgehen bleibt auch weiterhin unverzichtbar“, schreibt Benli in einem Kommentar am Tag nach der Wahl.
Langfristige Aufwärtstendenzen
Zunächst erwartet Benli starke Kursschwankungen. Zum einen dürften die Koalitionsverhandlungen und drohende Neuwahlen immer wieder hektische Reaktionen an der Börse auslösen, zum anderen müsse noch die Frage geklärt werden, wer künftig den wirtschaftlichen Kurs der Türkei bestimmt. Der bisherige Verantwortliche in der Regierung, Ali Babacan, tritt nach drei Legislaturperioden ab. Ebenso offen ist noch die Reaktion der türkischen Notenbank auf die scharfe Abwertung der Lira.
Seien diese Fragen geklärt, wären die langfristigen Aussichten für türkische Aktien vielversprechend, konstatiert Benli. Eine Regierungskoalition wäre eher konsensorientiert als eine weiter allein regierende AKP, was zu mehr Demokratie führen und mehr ausländische Investoren anlocken dürfte.
In diesem Jahrzehnt galt die Türkei unter vielen Schwellenländer-Investoren als besonders wachstumsstark. Die Börse in Istanbul verzeichnete in mehreren Jahren ein Plus im zweistelligen Prozentbereich. Die Bevölkerung ist jung, die Gründerszene lebhaft.
Türkische Unternehmen entwickelten sich in den vergangenen Jahren besonders dynamisch. Die hohen Exporte in das europäische Ausland lassen die Türkei auch von der Geldpolitik der Europäischen Zentralbank profitieren.
Auf der anderen Seite hat zuletzt das Wachstum in der Türkei mit nur 2,9 Prozent deutlich unter den Erwartungen gelegen, die Arbeitslosigkeit steigt, ebenso nimmt die Verschuldung zu.
Dennoch erwarten Anlageprofis wie Victor Szabo von Aberdeen Asset Management oder Yigit Onat, Aktienexperte bei HSBC Global Asset Management, langfristig starke Aufwärtstendenzen. Auch das niedrige Ölpreisniveau könnte der Türkei helfen, auf den alten Wachstumspfad zurückzukehren.
Als Depotbeimischung könnten daher Türkeifonds, wie sie etwa von DWS, JPMorgan, Dow Jones oder HSBC anbieten, gute Renditechancen bieten. Voraussetzung ist allerdings, dass nicht nur einfach in den Leitindex der Istanbuler Börse – den ISE 100 – investiert wird, sondern in ausgesuchte Titel. Ein aktives Fondsmanagement ist in dieser politisch getriebenen Marktlage eindeutig vorzuziehen.