




"Am 28.August 1749, mittags mit dem Glockenschlage zwölf, kam ich in Frankfurt am Main auf die Welt. Die Konstellation war glücklich: Die Sonne stand im Zeichen der Jungfrau und kulminierte für den Tag; Jupiter und Venus blickten sie freundlich an, Merkur nicht widerwärtig; Saturn und Mars verhielten sich gleichgültig; nur der Mond, der soeben voll ward, übte die Kraft seines Gegenscheins um so mehr, als zugleich seine Planetenstunde eingetreten war. Er widersetzte sich daher meiner Geburt, die nicht eher erfolgen konnte, als bis diese Stunde vorübergegangen. Diese guten Aspekte, welche mir die Astrologen in der Folgezeit sehr hoch anzurechnen wussten, mögen wohl die Ursache an meiner Erhaltung gewesen sein. Denn durch Ungeschicklichkeit der Hebamme kam ich für tot auf die Welt, und nur durch vielfache Bemühungen brachte man es dahin, dass ich das Licht erblickte. Dieser Umstand, welcher die meinigen in große Not versetzt hatte, gereichte jedoch meinen Mitbürgern zum Vorteil, indem mein Großvater, der Schultheiß Johann Wolfgang Textor, daher Anlass nahm, dass ein Geburtshelfer angestellt und der Hebammenunterricht eingeführt oder erneuert wurde, welches denn manchem der Nachgeborenen mag zugute gekommen sein."
Mit dieser lebhaften Schilderung seiner Geburt beginnt der wohl berühmteste Sohn der Stadt Frankfurt, Johann Wolfgang von Goethe, seine Autobiographie "Dichtung und Wahrheit". An die musste ich kürzlich denken. Zum einen, weil dieser Tage ein anderer großer Literat unseres Landes, der frühere Tennisspieler und heutige Virtuose der Twitter-Aphorismen, Boris Becker, seiner vor zehn Jahren veröffentlichten, mit dem geflügelten Goethe Wort von dem Augenblick, der doch verweile möge, verzierten Autobiographie einen zweiten Band mit dem gewichtigen Titel "Das Leben ist kein Spiel" hat folgen lassen. Zum anderen, weil mir ein Kollege kürzlich eine jener Kuriositäten zeigte, die ab und an zur Erheiterung des Publikums durch das Internet geistern, und bei deren Lektüre man unwillkürlich auch an den Unterschied zwischen Dichtung und Wahrheit denken muss. Angeblich handelt es sich bei jenem Pamphlet um eine Broschüre der Christlich Demokratischen Union (CDU) aus dem Jahre 1999. Titel: "Was kostet uns der Euro?" Fasst möchte man zu Gunsten der CDU hoffen, jener im Internet umhergeisternde Text sei tatsächlich ein Fake! Dessen Inhalt erinnert nämlich mehr an ein Kapitel aus Grimms Märchen und lässt einen aus heutiger Sicht am Realitätssinn des Verfassers zweifeln.
Auf die selbst gestellte Frage "Muss Deutschland für die Schulden anderer Länder aufkommen?" heißt es dort: "Ein ganz klares Nein! Der Maastrichter Vertrag verbietet ausdrücklich, dass die Europäische Union oder die anderen EU-Partner für die Schulden eines Mitgliedsstaates haften. Mit den Stabilitätskriterien des Vertrags und dem Stabilitätspakt wird von vornherein sichergestellt, dass die Nettoneuverschuldung auf unter 3% des Bruttoinlandsprodukts begrenzt wird." Und im Brustton der Überzeugung heißt es dann: "Die Euro-Teilnehmerstaaten werden daher auf Dauer ohne Probleme ihren Schuldendienst leisten können. Eine Überschuldung eines Euro-Teilnehmerstaates kann daher von vornherein ausgeschlossen werden."