EZB-Präsident Mario Draghi und sein Chefvolkswirt Peter Praet haben heute in Frankfurt bekräftigt, dass die Europäische Zentralbank an ihrer extrem expansiven Geldpolitik festhalten wird. Trotz wieder anziehender Inflation und sich aufhellenden Konjunkturdaten in Europa bleibt die EZB also unbeirrt bei ihrem umstrittenen Kurs.
Besonders in Deutschland sorgt das für Entsetzen. Hier lässt der Niedrigzins Aktienkurse und Immobilienpreise explodieren, während die gerade bei deutschen Sparern beliebten Bankeinlagen an Wert verlieren. Viele Banker und Ökonomen fordern daher eine baldige Normalisierung der Geldpolitik. Das ist nichts Neues.
Doch jetzt hat der ZEIT-Kolumnist und Tagesspiegel-Redakteur Harald Martenstein dem Frust vieler Deutscher angesichts der nicht mehr nachvollziehbaren EZB-Geldpolitik öffentlichkeitswirksam Luft verschafft. ZEIT und Tagesspiegel gehören zur gleichen Verlagsgruppe wie die WirtschaftsWoche. „Mir hat noch kein Manager in die Tasche gegriffen und direkt etwas weggenommen, aber diese Satansbank tut es“, schreibt Martenstein unter seinem wöchentlichen Kommentar, dieses Mal mit der Titelzeile „Über Inflation und Gerechtigkeit“.
Mit dem Griff in die Tasche meint Martenstein die Entwertung von Bankeinlagen, die aus der Kombination von zwei Prozent Inflation und den bei null festgeschraubten Zinsen entsteht. Die EZB hat eine knapp zweiprozentige Inflationsrate im langfristigen Durchschnitt als Zielmarke definiert. Allein, dass sie dies als Geldwertstabilität bezeichnet, ist schon hoch umstritten.
Martenstein dürfte sich nicht als geldpolitischen Experten sehen. Doch anders als so mancher Ökonom besitzt der bekannte Journalist das Talent, komplizierte Themen mit wenigen Worten auf den Punkt zu bringen. Die seit vielen Jahren im Zeitmagazin etablierte Martenstein-Kolumne greift oft alltägliche Beobachtungen auf, um die dahinter liegende Skurrilität zu entlarven.
Dabei bedient Martenstein sich gern der Satire oder des Spotts. Seine Bezeichnung der EZB als Satansbank sollte man daher auch nicht wörtlich nehmen, nach dem Motto, bei der Notenbank handele es sich um eine Institution des Teufels auf Erden und bei deren Personal um dessen Abgesandte. So meint es Martenstein auch mit Sicherheit nicht. Das Scherz-Schimpfwort „Satansbraten“ zum Beispiel ist ja in der Regel auch eher augenzwinkernd gemeint.
Doch die Kritik, die hinter Martensteins neuester Wortschöpfung namens „Satansbank“ steht, sollte man auf jeden Fall ernst nehmen. Deutschland ist das Mitgliedsland der Eurozone, in dem die Europäische Zentralbank ihren Sitz hat. Die Bundesrepublik hat daher eine besondere Verantwortung für die EZB, die sich auch in gesetzlichen Vorschriften niederschlägt.
So sind deutsche Behörden verpflichtet, alles für den Schutz der Notenbank und ihrer Mitarbeiter zu tun. Die hessische Polizei stellt das jedes Mal eindrucksvoll unter Beweis, wenn in Frankfurt internationale Chaoten die Kritik an der EZB-Politik als Vorwand für Randale hernehmen.
Tiefe Entfremdung
Die Stadt Frankfurt hat das großzügige Gelände für die neue Zentrale der EZB erschlossen, die einem Hochsicherheitstrakt gleicht. Die Zentralbank wiederrum revanchiert sich damit, die für sie umgebaute traditionelle Frankfurter Großmarkthalle als Industriedenkmal zu erhalten. Auch den plötzlichen Zuwachs an 1000 EZB-Mitarbeitern, die unter dem Dach der Notenbank die Oberaufsicht über die Banken der Eurozone übernommen haben, hat Frankfurt bestens integriert. Auf dieser Ebene könnten die Beziehungen nicht besser sein.
Geldpolitik der EZB
Die EZB setzt ihre ultralockere Geldpolitik unverändert fort: Der Leitzins bleibt bei null Prozent. Monatlich kauft die Notenbank weiter Staatsanleihen und andere Wertpapiere im Milliardenumfang. Basierend auf den aktuellen Daten halte der EZB-Rat die expansive Geldpolitik nach wie vor für angemessen, begründete Draghi. Immerhin sagt Europas oberster Währungshüter, dass die Notenbank derzeit keine Notwendigkeit sehe, noch mehr Geld in die Hand zu nehmen - etwa über neue Langfristkredite für Banken.
Die EZB strebt für den Euroraum eine Inflationsrate von knapp unter 2,0 Prozent an - weit genug von der Nulllinie entfernt. Im vergangenen Jahr wuchs die Wirtschaft im gemeinsamen Währungsraum robust um 1,7 Prozent. Im Februar 2017 dann knackte die Teuerung erstmals seit vier Jahren wieder die Marke von zwei Prozent - die von den Währungshütern angepeilten Ziele scheinen erreicht. Allerdings sind die Unterschiede zwischen den 19 Ländern des gemeinsamen Währungsraumes groß. „Die EZB hat einen Auftrag für den Euroraum insgesamt, und darauf muss sie ihre Geldpolitik ausrichten“, sagte der frühere EZB-Chefvolkswirt Otmar Issing dem „Handelsblatt“.
Hauptgrund für den Anstieg der Inflation ist ein kräftiger Sprung der Energiepreise. Ökonomen rechnen damit, dass der Höhepunkt zunächst erreicht ist. „In den nächsten Monaten dürfte die Inflationshysterie wieder etwas nachlassen“, erklärt die Commerzbank. Wichtig ist für die Währungshüter eine nachhaltige Entwicklung der Verbraucherpreise. Dabei haben sie auch die Kerninflation im Blick - also die Teuerung ohne stark schwankende Energie- und Nahrungsmittelpreise. Im Februar verharrte diese Rate bei vergleichsweise niedrigen 0,9 Prozent.
„Der große Belastungstest steht vermutlich am 7. Mai an, wenn die Stichwahl darüber entscheidet, ob mit Marine Le Pen eine erklärte Euro-Feindin französische Präsidentin wird“, erläutern Ökonomen der Landesbank Helaba. Solange dies nicht geklärt sei, dürfte EZB-Präsident Draghi keine geldpolitische Kursänderung zulassen. Ähnlich sieht das ING-Diba-Chefvolkswirt Carsten Brzeski. Sollte sich die politische Unsicherheit nach den Wahlen in den Niederlanden und in Frankreich legen, könnte die Notenbank im Sommer Hinweise auf einen Ausstieg im Jahr 2018 geben. „Dieses Timing könnte helfen, das EZB-Bashing im beginnenden Wahlkampf in Deutschland zu dämpfen“, sagt Brzeski.
Das dürfte noch eine Weile dauern. Draghi bekräftigte erneut, dass die Zinsen auf absehbare Zeit niedrig bleiben werden - mindestens bis zum Auslaufen der Anleihekäufe Ende 2017. Für Sparer ist das Zinstief bei steigender Inflation bitter. Sparbuch und Co. werfen ohnehin kaum noch etwas ab. Solange die Teuerungsrate nahe der Nulllinie dümpelte, glich sich das in etwa aus. Bei steigenden Verbraucherpreisen bleibt Sparern unter dem Strich aber weniger Geld.
Alle, die Kredite aufnehmen, zum Beispiel Immobilienkäufer. Auch wenn die Zinsen wieder leicht steigen, sind Hypothekenkredite immer noch günstig. Die ultralockere Geldpolitik kommt auch dem deutschen Fiskus zugute, weil er sich günstig verschulden kann. „Wären die Zinsen auf dem Niveau des Jahres 2007 geblieben, hätte der deutsche Staat über die Zeit um rund 250 Milliarden Euro höhere Zinsausgaben stemmen müssen“, rechnete Bundesbank-Präsident Jens Weidmann jüngst in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ vor.
Die EZB kann nicht von heute auf morgen einfach den Geldhahn zudrehen. Das würde zu schweren Turbulenzen an den Finanzmärkten führen. Um den Markt vorzubereiten, müssten die Währungshüter das Auslaufen der Wertpapierkäufe einige Monate vorher ankündigen, erläutert Commerzbank-Chefvolkswirt Jörg Krämer. Friedrich Heinemann, Experte am Wirtschaftsforschungsinstitut ZEW, mahnt: „Dringend nötig wäre eine klare Perspektive für 2018 mit einer realistischen Strategie zum Auslaufen der Anleihekäufe. Wie bei jedem Ausstieg aus einer Droge ist mit Entzugserscheinungen an den Anleihemärkten zu rechnen, auch Panikattacken sind denkbar.“
Und doch herrscht ausgerechnet zwischen der EZB und ihrem Gastland eine tiefe Entfremdung. Die Deutschen sehen die expansive Geldpolitik als gegen ihre Interessen gerichtet. Keiner weiß das besser als EZB-Präsident Mario Draghi. Ausgerechnet der ZEIT, von deren Kolumnisten die EZB jetzt kritisiert wird, gab Draghi 2015 ein großes, persönliches Interview, das aus dem italienischen übersetzt wurde und in dem der Zentralbankpräsident tiefe Einblicke in seine bewegte Biographie zuließ. Dort sprach er auch über die Angst der Deutschen vor der Inflation und über seine eigenen Erfahrungen mit der Geldentwertung.
Damals stellte Draghi klar: „Bei der Zentralbankpolitik geht es nicht darum, den deutschen Sparer zu bestrafen und nicht darum, schwache Länder zu belohnen.“ Das klang glaubwürdig. Doch angesichts der aktuellen Wirtschaftsdaten mit positiven Konjunkturaussichten und anziehender Inflation entfallen immer mehr Argumente, mit denen die expansive Geldpolitik weiter zu rechtfertigen wäre.
Wenn die EZB das Vertrauen der Deutschen nicht vollständig verlieren will, darf sie den Zeitpunkt für die Änderung ihres geldpolitischen Kurses nicht verpassen. Allerspätestens nach den für den Zusammenhalt der EU kritischen Präsidentschaftswahlen in Frankreich sollte eine Rückkehr zur geldpolitischen Normalität mit behutsamer Kommunikation durch die Notenbank eingeläutet werden. Keiner verlangt von der EZB, abrupt auf die Bremse zu treten. Doch gerade weil der Ausstieg aus den ungewöhnlichen Maßnahmen nur langsam und vorsichtig funktioniert, muss er langfristig vorbereitet und vorkommuniziert werden.
Ein unbeirrtes Festhalten am aktuellen Kurs dagegen würde dafür sorgen, dass gerade die Deutschen endgültig die Geduld verlieren. Das wäre gefährlich, denn in einem solchen Fall würde die Politik des Billiggeldes kurz vor der Bundestagswahl den Europafrust vergrößern, wo die Zentralbank doch gerade für den Zusammenhalt der Währungsunion kämpfen will.