
Was sich am gestrigen Mittwoch an den Börsen abgespielt hat, ist wegweisend für die kommende Kursentwicklung in Europa und in den USA: fallende Aktienkurse und Flucht in Anlagen, die als sicher gelten, also Gold und Cash. Die meisten Kommentatoren haben spontan die schwachen amerikanischen Konjunkturdaten als Ursache des Kursrückgangs hüben wie drüben ausgemacht.
So schnell können sie sich verbiegen: Bis zuletzt argumentierten sie, falls die US-Notenbank Fed ihre lockere Geldpolitik fortsetze – der EZB bleibt eh nichts anderes übrig -, sei das positiv für die Börse. Also schade eine gute Konjunktur den Aktienkursen, weil durch sie das Ende dieser Geldpolitik nahe – eine seltsame Begründung.
Reaktionen auf EZB-Zinssenkung und Wertpapierkäufe
Die EZB senkt im Kampf gegen eine drohende Deflation ihren Leitzins überraschend auf das neue Rekordtief von 0,05 Prozent. Der Schlüsselsatz für die Versorgung des Bankensystems mit Zentralbankgeld lag seit Juni bei 0,15 Prozent. In der anschließenden Pressekonferenz kündigte Zentralbank-Chef Mario Draghi zudem an, dass die EZB sogenannte Kreditverbriefungen (ABS) sowie Pfandbriefe aufkaufen wird. Ökonomen und Händler sagten dazu in ersten Reaktionen:
"Die EZB hatte ihr Pulver schon viel zu früh verschossen und die Zinsen zu weit gesenkt. Jetzt ist sie in der Liquiditätsfalle. Sie kann an dieser Stelle kaum noch etwas tun. Bedauerlicherweise deutet sich auch der Kauf von Anleihen durch die EZB an. Damit würde sie das Investitionsrisiko der Anleger übernehmen, wozu sie nicht befugt ist, weil es sich dabei um eine fiskalische und keine geldpolitische Maßnahme handelt. Eine solche Politik ginge zulasten der Steuerzahler Europas, die für die Verluste der EZB aufkommen müssten."
"Die Notenbanker argumentieren mit den zuletzt schwachen Konjunkturdaten und der geringen Inflation. Auch die gesunkenen mittelfristigen Inflationserwartungen wurden thematisiert. In diesem Zusammenhang wurden auch die Projektionen für Wachstum und Inflation in diesem Jahr nach unten angepasst. Insofern bleibt die Tür für weitergehende Lockerungsschritte weit geöffnet."
"EZB-Chef Mario Draghi hat geliefert, warum auch immer. Für uns ist das nicht gerade eine glückliche Maßnahme. Alle Banken und Vermögensverwalter sind jetzt in noch größerer Not, ihre Liquidität irgendwo zu parken, ohne bestraft zu werden. Auch die Sparer dürften sich verraten fühlen und werden immer mehr ins Risiko gezwungen."
"Die ökonomischen Wirkungen der heutigen Zinssenkung sind vernachlässigbar. Die EZB hat sich im Vorfeld der Zinsentscheidung unnötig unter Zugzwang gesetzt. Die Gefahr, dass der Euro-Raum in eine gefährliche Deflationsspirale rutscht, ist nach wie vor gering. Auf der anderen Seite wächst mit den Aktivitäten der EZB die Gefahr, dass die in mehreren Euro-Ländern dringend erforderlichen Wirtschaftsreformen weiter verschleppt werden."
"Das ist überraschend. Eine Zinssenkung hatte niemand so richtig auf der Agenda - zumal sie konjunkturell nichts bringt und verpuffen wird. Die Deflationsgefahr lässt sich damit nicht vertreiben. Dazu bedarf es eher eines Anleihen-Kaufprogramms. Die EZB signalisiert mit ihrer Maßnahme aber, dass sie sehr weit zu gehen bereit ist. Das ist eher ein symbolischer Schritt. Die realwirtschaftlichen Folgen sind bescheiden."
"Beginnt jetzt auch EZB-Chef Mario Draghi damit, Geld aus dem Hubschrauber abzuwerfen? Wenn Draghi um 14.30 Uhr mit der Pressekonferenz beginnt, wissen wir mehr. Dann wird sich zeigen, ob die Zinssenkung nur das Vorspiel für weiteres geldpolitisches Feuerwerk sein wird oder er damit den bequemsten Weg wählte, um unkonventionelle Maßnahmen in großem Stil ohne Gesichtsverlust abzuwenden."
"Das war schon eine heftige Überraschung, mit einer Zinssenkung hat kaum einer gerechnet. Bei der Senkung der Zinsen handelt es sich zwar nur noch um Nuancen, aber das ist ein wichtiges Signal an die Kapitalmärkte, dass die EZB bereit ist, alles zu tun, was nötig ist."
Die Wahrheit ist viel einfacher: Institutionelle und private Anleger nehmen unabhängig von dem, was Fed und EZB noch auf der Agenda haben, einfach ihre in drei Jahren aufgelaufenen, zum Teil durch viel Spielgeld aufgeblasenen Kursgewinne mit. Die institutionellen, um ihren Kunden zum baldigen Jahresende zählbare Erfolge präsentieren zu können.
Die privaten, damit die Gattin endlich zu ihrem Wunsch-Sport-Utility-Vehicle kommt und Sohnemann oder Töchterlein mit dem neuesten Smartphone spielen kann. Von Gewinnmitnahmen ist halt noch niemand arm geworden, lautet ein unter Börsianern gängiger Spruch. Und besonders die Deutschen sollten zur Belebung der Wirtschaft endlich mehr konsumieren, fordern gern amerikanische Professoren, die noch nie in Deutschland waren.
Abwärtsspirale in den USA
Sind die USA womöglich unser großes Vorbild, nicht allein in Sachen Konsum? Auf diese Idee könnte man ja beim Vergleich der amerikanischen mit den europäischen Aktienkursen kommen: Der S&P-Index ist dem Dax in den vergangenen Jahren weit davongezogen, wenn man berücksichtigt, dass er ein Kursindex ohne Dividenden, der Dax dagegen ein Performanceindex mit Dividenden ist.
Und auch beim Vergleich der Konjunktur schneiden die USA viel besser ab, niedrige Energiepreise dank Fracking machen es möglich - soll doch die nächste Generation zusehen, wie sie mit den durch diese Methode der Energiegewinnung verursachten Umweltschäden klarkommt.
Die amerikanische Konjunktur basiert auf einer exorbitanten Schuldenwirtschaft. Dazu einige Daten, entnommen einer Studie von Folker Hellmeyer, Chefanalyst der Bremer Landesbank: Seit 2008 bis Ende September 2014 ist die Wirtschaftsleistung um 7 Prozent gestiegen, die Staatsverschuldung um 78 Prozent.
In derselben Zeit haben die Konsumentenkredite um 18,5 Prozent zugenommen, die Lebensmittelpakete für Bedürftige um 50 und die Studentenkredite um 90 Prozent. Das Leben auf Pump hat in den USA Tradition. Mit fallenden Aktienkursen wird es zunehmen und eine Abwärtsspirale in Bewegung setzen.
Europa hat ein Bankenproblem
Um Europa ist es leider noch schlimmer bestellt, jedoch aus ganz anderen Gründen. Bezeichnend dafür war der Kurssturz vom Mittwoch an der deutschen Börse; er fiel besonders deshalb kräftiger aus als in Amerika, weil Europa ein Bankenproblem hat – zwar nicht erst jetzt, aber in seiner Wirkung auf die Aktienkurse wohl, und das mit zunehmender Tendenz schon seit einigen Wochen.
Das Problem besteht im Wesentlichen darin, dass europäische Banken über zu wenig Eigenkapital im Verhältnis zu ihren Bilanzsummen verfügen. Um es zu beheben, könnten sie neues Eigenkapital aufnehmen, weniger Kredite vergeben und/oder sich von einem Teil ihrer Anlagen trennen.
Die erste Variante erweist sich als illusorisch, zumal die Ergebnisse des Stresstests der Banken durch die EZB erst Ende Oktober vorliegen und dann wahrscheinlich zu neuen Verwerfungen führen werden. Die zweite Variante ist für die Entwicklung der Konjunktur gefährlich, die dritte für die Börsenentwicklung. Die dritte wird gerade fleißig praktiziert.
Die zehn wichtigsten Aktien-Regeln
Gegen die größer werdenden Unwägbarkeiten sollte man sich zuallererst mit einer Strategie wappnen: Wer an kräftiges Wachstum in Deutschland glaubt, an einen anhaltenden Boom der Schwellenländer und hohen privaten Konsum, kann weiter am Aktienmarkt investieren. Wer skeptisch ist, sollte seine Bestände hingegen nicht aufstocken.
Eng verbunden mit der ersten Regel: Immer wieder kommt es vor, dass sich Dinge anders entwickeln, als man erwartet hat. Es ist wichtig, sich selbst immer wieder zu hinterfragen und nicht jeder Entwicklung hinterherzulaufen. Eine solche Reaktion zeugt nicht von einem geringen Vertrauen in die eigene Strategie. Es kostet meist auch Geld, weil die Masse schon vorher diese Richtung eingeschlagen und das Gros an Rendite eingefahren hat.
Groß oder klein, spekulativ oder konservativ, liquide oder illiquide, dividendenstark oder dividendenschwach, Substanz oder Wachstum: Bei Aktien ist die Auswahl riesig. Der richtige Mix aus spekulativen und konservativen Titeln hilft, Schwankungen zwischen guten und schlechten Zeiten auszugleichen. Nicht zu unterschätzen sind starke Dividendenzahler, die Jahr für Jahr den Grundstock für eine solide Rendite legen.
Keine Frage, die Börsen haben in den vergangenen zehn Jahren stärker geschwankt als in allen Dekaden zuvor. Das wird so bleiben, mit wachsendem Computerhandel sogar noch zunehmen. Wer sein Risiko minimieren will, baut Barrieren ein – sogenannte Stopps. Gerne werden Stopps bei 20 Prozent über und unterhalb des aktuellen Kurses gewählt. Dann wird automatisch verkauft, wenn diese Grenzen erreicht sind. Kommt eine Phase überraschend steigender Kurse mit anhaltendem Aufwärtstrend, lässt sich die Barriere leicht nach oben verschieben. Wichtig ist dann, auch die Barriere am unteren Ende nachzuziehen.
Wichtig in Phasen überraschender Kurssteigerungen oder -stürze ist es, das Verhalten der Masse zu beobachten. Ist es noch nachvollziehbar oder völlig irrational? Häufig ist es irrational. Dann hilft meist die zweite Regel: Widerstandskraft zeigen. Nach einigen Monaten kehrt die Rationalität von ganz allein zurück. Der Kurssturz aus dem vergangenen Jahr und die jüngste Entwicklung beweisen das gerade wieder.
Sind Aktien wie seit Jahresbeginn schon um 30, 40 oder gar 50 Prozent gestiegen, dann sind Anschlussgewinne in der Regel nur noch schwer zu erzielen. Phrasenverdächtig ist zwar die alte Weisheit: „An Gewinnmitnahmen ist noch niemand zugrunde gegangen.“ Richtig ist sie trotzdem.
Firmenchefs haben einen gewaltigen Vorteil gegenüber normalen Aktionären. Sie wissen weit mehr als jeder Analyst oder Kommentator, wie es in ihrem Unternehmen aussieht. Insider nennt man sie deshalb. Sie melden ihre Orders innerhalb von fünf Handelstagen an die Börsenaufsicht Bafin. Das Handelsblatt veröffentlicht alle zwei Wochen das sogenannte Insider-Barometer, das aus der Summe aller Kauf- und Verkaufsorders Schlüsse für den weiteren Verlauf in Dax & Co. zieht. Jüngste Tendenz: Vorstände und Aufsichtsräte verkaufen mehr als sie kaufen. Vorsicht also!
Terroranschläge und Naturkatastrophen kommen unerwartet. Politische Konflikte wie aktuell zwischen Israel und dem Iran schwelen meist länger. Entscheidende Wahlen wie jüngst in Russland und in diesem Jahr noch in Frankreich und den USA sind vorhersehbar und haben immer Einfluss auf die Börse. Dabei gilt generell: Wahljahre sind gute Börsenjahre.
Mit Optionsscheinen oder Bonus-Zertifikaten lässt sich zwar aus einem Aufwärtstrend ein noch größerer Profit schlagen. Dies sind jedoch in der Regel Wetten ohne realen Hintergrund. Aktien sind reale Werte.
Vor allem Aktien einzelner Branchen unterliegen immer wieder gewissen Moden. Doch die wechseln wie im realen Leben, und manchmal geht das schneller, als man denkt. Das bekommt gerade die einst angesehene Solarenergie-Branche bitter zu spüren.
Damit lässt sich zum größten Teil begründen, warum die deutschen wie auch die anderen europäischen Aktienkurse zuletzt so tief gefallen sind. Wie aus einer Studie der Frankfurt School of Finance & Management und des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung hervorgeht, würde sich bereits ein Kursrückgang um 10 Prozent verheerend auf die Banken auswirken. Inzwischen ist der Kurssturz viel schlimmer – ein böses Omen für die kommende Kursentwicklung.
Durcheinander von Programmen zu erwarten
Kann EZB-Chef Mario Draghi die europäischen Banken retten? Er wird es zumindest versuchen. Wie man sich das im Einzelnen vorzustellen hat, wird aus den Ergebnissen des Stresstests und anschließend aus der im November beginnenden Arbeit der neuen europäischen Bankenaufsicht hervorgehen, die der EZB untersteht.
Draghi hat schon angekündigt, worin die Kernpunkte der Bankenrettung bestehen sollen: Er will die von ihm in den vergangenen Jahren mehrfach beschworenen unkonventionellen Mittel einsetzen, um den Banken deren Kreditlasten abzunehmen. Dazu gehört in erster Linie der Kauf von Schuldverschreibungen und Asset Backed Securities (ABS), beginnend in der zweiten Oktoberhälfte und gestreckt über mindestens zwei Jahre.
Geldanlage
Nur gibt es da das eine oder andere Problem. So ist der Markt für infrage kommende Schuldverschreibungen mit hoher Bonität und für werthaltige ABS (im Gegensatz zu Zockerpapieren mit demselben Namen, die mit zur Finanzkrise geführt haben) so klein, dass die Wirkung der EZB-Maßnahmen mangels Volumen zu verpuffen droht. Im Übrigen würde die EZB mit ihren großen Käufen die Kurse im Vergleich zu anderen Anlageklassen verzerren.
Und weil sie bereits mehrere Programme zur Bankenrettung laufen hat, kann es schnell zu Wechselwirkungen mit gehörigem Durcheinander kommen – das noch verstärkt werden dürfte, sobald Draghi ganz unkonventionell zu einer mehr oder weniger kaschierten De facto-Fiskalpolitik überginge. Von daher gesehen sollten Anleger von der EZB bis auf Weiteres keine positiven Impulse erwarten. Oder in der Börsensprache formuliert: Die Baisse nährt die Baisse.