Aus Kapitalmarktsicht war für einen Euro-Anleger das Jahr 2023 bislang weitgehend erfolgreich. In der Breite der Assetklassen gab es eine positive Performance, lediglich auf der Rohstoffseite schlugen deutlichere Verluste zu Buche. Märkte haben dabei weitgehend die Performance akkumuliert, die ich ihnen für das Gesamtjahr zugetraut hatte, und dabei zwei unerwartete Untiefen erfolgreich umschifft: Die Krise der Regionalbanken in den USA mit dem Scheitern von drei signifikanten Banken und das selbstproduzierte Drama um die US-Schuldenobergrenze (das Debt Ceiling).
Während Letzteres für die nächsten zwei Jahre gelöst ist, gelten die Ursachen für die Bankenschieflagen, der starken Zinsanstieg, die Unsicherheit über Fristentransformation und die neue Schnelligkeit des Abziehens von Einlagen im digitalen Zeitalter weiter.
In dem makroökonomischen Rahmen gab es bislang vieles, was zu erwarten war sowie einige positive und negative Überraschungen, die in Summe das Navigieren im kommenden zweiten Halbjahr eher schwieriger als leichter machen werden. Die Märkte haben dabei die positiven Aspekte gerne genommen, bei den eher kritischen auf die Zeit vertraut. Zu den kritischen gehört sicherlich die Widerstandsfähigkeit der dritten Größe, der Kerninflation.
Schneller schlau: Inflation
Wenn die Preise für Dienstleistungen und Waren allgemein steigen – und nicht nur einzelne Produktpreise – so bezeichnet man dies als Inflation. Es bedeutet, dass Verbraucher sich heute für zehn Euro nur noch weniger kaufen können als gestern noch. Kurz gesagt: Der Wert des Geldes sinkt mit der Zeit.
Die Inflationsrate, auch Teuerungsrate genannt, gibt Auskunft darüber, wie hoch oder niedrig die Inflation derzeit ist.
Um die Inflationsrate zu bestimmen, werden sämtliche Waren und Dienstleistungen herangezogen, die von privaten Haushalten konsumiert bzw. genutzt werden. Die Europäische Zentralbank (EZB) beschreibt das wie folgt: „Zur Berechnung der Inflation wird ein fiktiver Warenkorb zusammengestellt. Dieser Warenkorb enthält alle Waren und Dienstleistungen, die private Haushalte während eines Jahres konsumieren bzw. in Anspruch nehmen. Jedes Produkt in diesem Warenkorb hat einen Preis. Dieser kann sich mit der Zeit ändern. Die jährliche Inflationsrate ist der Preis des gesamten Warenkorbs in einem bestimmten Monat im Vergleich zum Preis des Warenkorbs im selben Monat des Vorjahrs.“
Eine Inflationsrate von unter zwei Prozent gilt vielen Experten als „schlecht“, da sie ein Zeichen für schwaches Wirtschaftswachstum sein kann. Auch für Sparer sind diese niedrigen Zinsen ein Problem. Die EZB strebt mittelfristig eine Inflation von zwei Prozent an.
Deutlich gestiegene Preise belasten Verbraucherinnen und Verbraucher. Sie können sich für ihr Geld weniger leisten. Der Privatkonsum ist jedoch eine wichtige Stütze der Konjunktur. Sinken die Konsumausgaben, schwächelt auch die Konjunkturentwicklung.
Von Disinflation spricht man, wenn die Geschwindigkeit der Preissteigerungen abnimmt – gemeint ist also eine Verminderung der Inflation, nicht aber ein sinkendes Preis-Niveau.
Gehen wir es exemplarisch der Reihe nach durch und beginnen mit den aus meiner Sicht positiven Überraschungen. Das warme Wetter in Europa zu Jahresbeginn verhinderte eine Rationierung von Energie und leitete einen Preisrückgang ein, der größer war, als selbst die Optimisten erwartet hatten. Das Re-Opening von China lief bislang positiv.
Hier und auch im Westen zeigte sich gerade der Dienstleistungssektor stärker als vielfach erwartet und trug zu dem Bild einer widerstandsfähigen Konjunktur bei, wahrscheinlich auch dadurch bedingt, dass der Effekt der anhaltenden Zinserhöhungen der Notenbanken für diesen Sektor einen weniger starken Einfluss hat. Auch die Unternehmensgewinne boten im Aggregat ein durchaus positives Bild. Hinzu kommt dann eben noch das bereits besprochene Containment der Bankenkrise sowie die Debt-Ceiling-Problematik in den USA.
Zu den wichtigsten Komponenten, die sich bislang weitgehend erwartungsgemäß verhalten haben, gehören sicherlich die westlichen Notenbanken. FED und EZB haben wiederholt die Zinsen angehoben und befinden sich am oder nahe des Endes des Zinserhöhungszyklus. Ebenfalls erwartungsgemäß sanken die Inflationsraten im Jahresvergleich sowohl in der Eurozone wie auch in den USA deutlich. Und dennoch muss ich meine Einschätzung bekräftigen, dass ich in diesem Umfeld dieses Jahr noch keine Zinssenkung seitens der FED oder der EZB sehe. Erwartungsgemäß hat es auch kein Ende des russisch-ukrainischen Krieges gegeben und auch die Wachstumserwartungen für den Rest des Jahres und 2024 bleiben eher moderat, nahe einer Stagnation für die großen westlichen Industrienationen.
Grund dafür ist sicherlich eine der eher negativen Überraschungen der ersten fünf Monate des Jahres, dass nämlich die Kerninflation, also die Inflation, die die Preisentwicklung in den Bereichen außerhalb von Energie und Nahrungsmitteln misst, beharrlicher und höher bleibt als zunächst erwartet. Gemessen an den stärker zurückgekommenen Energiepreisen gibt auch das Momentum im verarbeitenden Gewerbe, insbesondere in Europa, aber auch China, Anlass zur Sorge.
Nun ist der erste Teil des Jahres weitgehend vorbei, die Notenbanksitzungen im Juni sollten an der gesamten Lageschätzung wenig ändern. Wie geht es weiter? Nun, ich denke, die Märkte werden weiter den Kurs zu einem noch unbekannten „New Normal“ navigieren, ein „New Normal“, das sich nach den seismischen Veränderungen des letzten Jahres erst finden muss und das weniger internationale Arbeitsteilung, höhere geopolitische Risiken, höhere durchschnittliche Inflation und eher geringeres Wachstum beinhaltet. Das derzeitige Bild für die Märkte ist eher gemischt, es gibt sowohl Optimisten wie Pessimisten Argumente an die Hand.