Das ist kein Widerspruch, sondern im Gegenteil: Vielleicht war das Niveau der „Aktienkultur“ in Deutschland nie höher als heute, die Fähigkeit zur Einschätzung wirtschaftlicher Vorgänge nie stärker ausgeprägt. Seit Crashs und Krisen die Finanzmärkte in immer engerer Taktung erschüttern, ja: seit die Geld-Welt als solche nur noch im Modus der Krise erfassbar ist, investieren die Deutschen – solide finanziert, versteht sich – in Immobilien und halten sich mit Engagements an der Börse zurück. Wie klug.
Selbst dem amerikanischen Ökonomen und Nobelpreisträger Robert Shiller fällt auf, dass Deutschland „weniger anfällig für Immobilienblasen“ ist, dass deutsche Investoren „viel vorsichtiger und bürokratischer, auch weniger spekulativ“ sind. Die Sekuritätssensibilität der deutschen Krisenkinder gewinnt seit Jahren an Substanz und Wert. Wenigstens auf den ersten Blick.
Auf den zweiten Blick erweist sie sich als Schimäre. Denn so rational die Zurückhaltung gegenüber Aktien im derzeitigen Umfeld auch sein mag – zum schlagenden Beweis für kluges Anlegerverhalten taugt sie nicht, im Gegenteil: Statt auf Aktien verteilt sich das Geldvermögen der Deutschen vor allem auf Girokonten, Spar- und Termineinlagen und wird von Versicherern und Pensionsmanagern verwaltet – zu jeweils rund 40 Prozent. Das Geld auf den Konten ist jederzeit liquidierbar, gewiss, und das Geld bei den Versicherern suggeriert eine materielle Absicherung des Lebensabends, die an einem überhitzten Aktienmarkt womöglich (derzeit) nicht (mehr) zu erzielen ist.
Und doch sind ausgerechnet die deutschen Krisenkinder damit auf den Krisenfall denkbar schlecht vorbereitet: Bargeld ist nicht nur „totes“ Bargeld, sondern kann sich auch in Luft auflösen (Inflation). Und das den Versicherern anvertraute Geld ist nicht nur niedrig verzinstes und „gebundenes Geld“, das heißt allenfalls nach Zahlung hoher Gebühren verfügbar. Sondern es induziert auch exakt die Risiken, zu deren Vermeidung es eigentlich angelegt ist, weil es in Anleihen „arbeitet“ und damit einen Schuldenkreislauf beschleunigt, dem der Kollaps droht – Endstation Totalverlust. Warum aber sparen die Deutschen aus Vorsicht falsch? Vielleicht hilft ein Blick auf die Forschungsergebnisse der Neurowissenschaften und Verhaltensökonomen weiter:
- Erstens: mangelnde Vertrautheit. Menschen verlassen sich am liebsten auf das, was sie kennen. Der Sparer, der die Börse nicht versteht, dem die Kapitalmärkte nicht geheuer sind und der deshalb an seinem Sparbuch festhält, glaubt sich auf der sicheren Seite und nimmt dafür sogar Renditenachteile in Kauf. Eigentlich will er gar nicht so genau wissen, was ihm da entgeht, und tatsächlich spürt er es ja auch kaum. Warum? Weil ihn, im Gegensatz zu realen Verlusten, entgangene Gewinne nicht beunruhigen. Sie dringen – „was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß“ – gar nicht erst in sein Bewusstsein vor.
- Zweitens: Angst. Der Schriftsteller Burkhard Spinnen, durchaus kein wirtschaftsferner Autor, hat in einem Essay über „Börse und Magie“ die Gründe für seine Börsenabstinenz genannt. Die Versuchung sei groß gewesen, ohne Arbeit reich zu werden, damals, als für die T-Aktie geworben wurde, „und mehr noch die Versuchung: mitzutun, dazuzugehören. Ging aber nicht. Ich hatte einfach Angst“. Angst vor Verlusten. Eine Angst, die offenbar zu unserer anthropologischen Grundausstattung gehört. Für so gut wie alle Menschen ist es wichtiger, Verluste zu vermeiden, als Gewinne zu erzielen – was dazu führt, dass ihnen ein geringer, aber sicherer Gewinn lieber ist, als die Aussicht auf einen hohen, aber unsicheren Gewinn. Sie nehmen sogar geringe, überschaubare Verluste hin, wenn sie dafür dem Risiko hoher Verluste entgehen. Dass bei Spielen mit Gewinnchancen die Risiken generell überschätzt werden, gehört zu den gesicherten Erkenntnissen der Verhaltensökonomik.