Die Verwissenschaftlichung der Geldanlage wird in der Finanzindustrie großgeschrieben. Denn es stärkt die Überzeugungskraft erheblich, wenn sich Anlageempfehlungen und -produkte durch Theorien legitimieren (oder doch zumindest scheinlegitimieren) lassen. Das mag beispielsweise auch den bislang ungebrochenen Siegeszug der modernen Finanzmarkttheorie (oder: „Modern Portfolio Theory“) in den letzten Jahrzehnten erklären. Wie keine andere Theorie prägt sie das Anlageverhalten der Mehrzahl der Investoren, formt ihre Vorstellung hinsichtlich Risiko, Diversifikation, Portfoliozusammensetzung und Erfolgsmessung.
Doch die moderne Finanzmarkttheorie leidet unter logischen Inkonsistenzen (die an dieser Stelle jedoch nicht thematisiert werden) und verleitet zu fragwürdigen Investitionsentscheidungen. Beispielsweise geht sie davon aus, dass die Aktienkurse zu jedem Zeitpunkt alle relevanten Informationen enthalten. Und dass aus diesem Grund der Investor nicht besser abschneiden kann als der Gesamtmarkt.
Er soll daher nicht ausgewählte Einzelaktien kaufen, sondern von Banken aufgelegte Aktienindex-Zertifikate oder -ETFs. Das Risiko wird in der modernen Finanzmarkttheorie als Schwankung der Börsenkurse definiert. Für beide Aussagen gibt es jedoch überzeugende Gegenargumente.
Zur Person
Dr. Thorsten Polleit ist Chefvolkswirt der Degussa sowie Mitgründer und volkswirtschaftlicher Berater und Mitgründer des P&R REAL VALUE Fonds. Er ist zudem Honorarprofessor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Bayreuth. In seiner auf wiwo.de erscheinenden Kolumne "Intelligent investieren" widmet er sich alle 14 Tage (immer mittwochs) den grundlegenden Irrtümern und Erkenntnissen der Geldanlage.
In den letzten Jahren hat sich eine theoretische Neuerung nach vorn gearbeitet: die Verhaltensökonomik („Behavioral Economics“) beziehungsweise ihre Teildisziplin, die verhaltensorientiere Finanzmarkttheorie („Behavioral Finance“). Der US-amerikanische Ökonom Richard H. Thaler (*1945) hat in diesem Jahr den Wirtschaftsnobelpreis für seine Verdienste erhalten, die Wirtschaftswissenschaft mit verhaltenspsychologischen Erkenntnissen integriert zu haben. Vor ihm wurden bereits Ökonomen dieser Disziplin ausgezeichnet: Robert Fogel (1993), George Akerlof (2001), Daniel Kahneman (2002), Elinor Ostrom (2009) und Robert Shiller (2013).
Doch selbst prestigeträchtige Ehrungen sollten den umsichtigen Anleger nicht davon abhalten, kritische Überlegungen anzustellen.
Auf den ersten Blick scheint die Botschaft der verhaltenspsychologischen Finanzmarkttheoretiker überzeugend zu sein: Marktakteure handeln nicht immer rational (vernünftig), sondern sie treffen viel häufiger als gedacht irrationale Entscheidungen. Die Verhaltensökonomen führen dafür Erklärungsfaktoren ins Feld wie zum Beispiel begrenzte Vernunft („Limited Rationality“), soziale Präferenzen („Social Preferences“) und mangelnde Selbstkontrolle („Lack of Self-Control“). Wer wollte bestreiten, dass solche (und weitere Einflüsse) das Handeln der Marktakteure prägen? Die Kritik am Behavorismus macht sich auch nicht an ihnen, sondern an etwas weitaus Grundlegenderem fest.
Gewichtiger Streitpunkt
Zu kritisieren ist sein wissenschaftliches Fundament. Es geht um die wichtige (Streit-)Frage: Was ist die richtige wissenschaftliche Methode? Die wissenschaftliche Methode bezeichnet, einfach gesprochen, das Vorgehen, um Wissen (Erkenntnis) über ein Erkenntnisobjekt zu gewinnen. In den Naturwissenschaften geht man üblicherweise wie folgt vor: Man formuliert eine Hypothese, zum Beispiel: „Wenn A, dann B“; oder: „Wenn A sich um x ändert, ändert sich B um y“. Dann wird die Hypothese anhand von Experimenten (Laborversuchen) getestet. Bestätigt sich die Hypothese, ist sie bis auf weiteres nicht widerlegt. Bestätigt sie sich nicht, gilt sie als verworfen (falsifiziert).
Was aber kann man mit derartigen Testergebnissen anfangen? Weniger als Sie vielleicht denken. Wenn die Hypothese bestätigt wird, heißt das nicht, dass man sich auf den unter-suchten Zusammenhang verlassen kann. Er könnte nämlich in der Zukunft anders sein als in der Untersuchung. Und wenn sich die Hypothese nicht bestätigt, heißt das nicht, dass der Zusammenhang künftig nicht doch Gültigkeit haben wird. Mit anderen Worten: Man kann auf Basis von Experimenten (aus logischen Gründen) keine abschließenden Gewissheiten ableiten. In den Naturwissenschaften ist das allerdings relativ unproblematisch, weil es hier Gesetzmäßigkeiten (man spricht heutzutage meist von „Modellen“) gibt.
Menschliches Handeln entzieht sich der Naturwissenschaft
Ein naturwissenschaftliches Gesetz ist ein allgemeiner Zusammenhang, der unter bestimmten Bedingungen ausnahmslos gilt. Beispiel: Bleibt die Temperatur konstant, gilt für metallische Leiter das Ohmsche Gesetz. Es zeigt den physikalischen Zusammenhang zwischen Strom, Spannung und Widerstand in einem Stromkreis. In der Naturwissenschaft lassen sich daher auch konstante, quantifizierbare Reaktions- beziehungsweise Verhaltensparameter identifizieren gemäß der Formel: Wenn Faktor X um zehn Prozent steigt, fällt Faktor B um 20 Prozent. Hat man solch einen stabilen Zusammenhang ermittelt, weiß man, wie man vorgehen muss, um ein bestimmtes Ergebnis zu erreichen; die Zukunft wird beherrschbar(er).
Logik des menschlichen Handelns
Der Behaviorismus überträgt die wissenschaftliche Methode der Naturwissenschaft eins zu eins auf den Bereich des menschlichen Handelns. Das aber ist erkenntnistheoretisch nicht zu rechtfertigen. Das menschliche Handeln lässt sich nämlich nicht mit der wissenschaftlichen Methode der Naturwissenschaft erfassen. Der Grund: Der Mensch ist ein handelndes Wesen, ist ein homo agens. Er hat Präferenzen, trifft Werturteile, wählt Mittel aus, um seine Ziele zu erreichen. Das unterscheidet ihn kategorisch von den Erkenntnisobjekten in der Naturwissenschaft – wie Atome, Steine oder Regenwürmer. Letztere haben keine Vorlieben, wählen nicht zwischen alternativen Handlungsmöglichkeiten, um Ziele zu erreichen.
Anders als in der Naturwissenschaft gibt es zudem eine wissenschaftlich nicht zu schließende Kluft zwischen menschlichen Handlungen und den sie bestimmenden äußeren Faktoren (ob nun materieller oder immaterieller Art); Philosophen sprechen hier vom „Leib-Seele-Problem“. Bisher ist es nicht gelungen, das menschliche Handeln systematisch durch äußere Bestimmungsgrößen zu erklären. Menschen reagieren auf den gleichen Faktor zu unterschiedlichen Zeitpunkten unterschiedlich. Es gibt im Bereich des menschlichen Handelns keine Verhaltenskonstanten. Das ist eine Einsicht, die nicht aus Beobachtungen rührt (und damit anfechtbar wäre), sondern sie erklärt sich (handlungs-)logisch.
Der Mensch lernt dazu
Wäre man in der Lage, aus heutigen Zuständen das künftige Verhalten zu prognostizieren, so würde das bedeuten, dass die Handelnden nicht lernen können. Man wüsste dann heute schon alles, was man jemals künftig wissen wird; der Mensch wäre quasi ein Automat.
Das klingt nicht nur absurd, das ist es auch. Man kann aus logischen Gründen nicht verneinen, dass der Mensch lernfähig ist. Wer argumentiert, der Mensch sei nicht lernfähig, der verstrickt sich in einen logischen Widerspruch: Zum einen muss er die Einsicht, dass der Mensch nicht lernen kann, irgendwann einmal gelernt haben (also attestiert er Lernfähigkeit); und zum anderen geht der, der das sagt, davon aus, dass andere sein Gesagtes noch nicht wissen, dass sie lernfähig sind (sonst würde er nichts sagen).
Die beliebtesten Anlageformen
2015 hat das Sparbuch die Lebensversicherung als beliebteste Geldanlage abgelöst. Mehr als 50 Prozent der Deutschen besitze eines.
Die Lebensversicherungen und privaten Rentenversicherungen hat es 2015 schwer gebeutelt. Waren es 2014 noch rund 58 Prozent der Deutschen, die eines besaßen, sank diese Zahl auf 49 Prozent. Das bedeutet den Verlust der Spitzenposition.
Einen leichten Zuwachs konnte das Tagesgeld verzeichnen. 48 Prozent aller Deutschen hatten 2015 Teile ihres Vermögens in dieser Anlageform. Trotz der wenig erquicklichen Zinsen.
Der Bausparvertrag als vermeintlicher Inbegriff der Spießigkeit legt in 2015 ein wenig in der Gunst der Kunden zu. Etwa 41 Prozent der Deutschen besitzen einen und das heißt Platz 4.
Fondsanteile für die Börse oder an Immobilien haben etwa 32 Prozent der Deutschen zur Zeit.
Der Sparbrief gewann 2015 im Gegensatz zum Vorjahr an Fans und liegt auf Platz 6. Etwa 18 Prozent aller Deutschen besitzen einen.
Es gibt Börsenberichte, Börsentipps, der Wert des Dax ist allenthalben Themen. Nur Aktien kaufen, das behagt den Deutschen nicht so recht. Lediglich etwa 17 Prozent besaßen 2015 welche. Immerhin: Mehr als 2014.
15 Prozent aller Deutschen haben Festgeld. Der Wert blieb stabil.
Es glänzt, es beflügelt Phantasien, es hat Anziehungskraft. Doch 2015 haben viele Deutsche ihr Gold oder ihre Goldzertifikate verkauft. Nur noch vier Prozent aller Deutschen besitzen eines von beiden, das Jahr zuvor waren es noch doppelt so viele.
Keine verlässliche Formel
Zusätzlich zu dieser erkenntnistheoretischen Kritik gibt es begründete Vorbehalte, die Verhaltensökonomik als Teil der Wirtschaftswissenschaft einzustufen. Die Verhaltensökonomik ist im Kern Psychologie, hat mit dem Aufspüren von gesetzmäßigen Zusammenhängen im Bereich des menschlichen Handelns – wie das Agieren der Investoren auf den Finanzmärkten – nichts zu tun.
Was die Verhaltensökonomen anbieten, können keine wissenschaftlich belastbaren Zusammenhänge zwischen zum Beispiel dem menschlichen Verhalten (oder den sie bestimmenden Faktoren) und den Preisen von Aktien, Anleihen oder Rohstoffen und Zinsen und Wechselkursen sein; das ist aus logischen Gründen nicht möglich.
Es gibt noch eine weitere, aus Sicht der Praktiker leicht einsehbare Kritik: Der Behaviorismus lenkt das Augenmerk meist auf die Erklärung von Marktpreisen, auf das Auf und Ab der Kurse. Für den umsichtigen Investor gibt es jedoch gute Gründe, seine Aufmerksamkeit nicht dem Marktpreisgeschehen zu widmen, sondern vielmehr alles daran zu setzen, den Wert seiner Investitionsobjekte zu ermitteln. Beispiel Aktie: Der Wert der Aktie ist die Summe der abdiskontierten künftigen Gewinne des Unternehmens. Für den umsichtigen Investor ist es sinnvoll zu investieren, wenn der Preis der Aktie unter ihrem Wert liegt. Kennt er den Wert mit hinreichender Genauigkeit, übt er sich in Geduld, bis der Preis stimmt und kauft dann.
Langfristig zählen harte Zahlen
Benjamin Graham (1884 – 1976) bezeichnete daher auch den Aktienmarkt in der kurzen Frist als „Voting Machine“, in der langen Frist als „Weighing Machine“: Kurzfristig können sich in den Aktienkursen alle möglichen Stimmungseinflüsse widerspiegeln, in der langen Frist setzen sich die fundamentalen Faktoren durch. In der kurzen Frist – das zeigen Studien – gleichen die Kursbewegungen auf den Aktienmärkten einem „Random Walk“, einem Zufallspfad. Ihn prognostizieren zu wollen, ist vergebliche Müh.
Verschafft Bahavioral Finance einen Vorteil?
Selbst wenn wir um die verhaltenspsychologischen Eigenheiten der Menschen wissen: Lässt sich daraus eine verlässliche Formel ableiten, die hilft, die kurzfristigen Aktienkursbewegungen richtig einzuschätzen und dieses Wissen gewinnbringend auszunutzen?
Aus handlungslogischer Sicht ist diese Frage mit einem klaren Nein zu beantworten. Warum sollte man sich als Anleger mit Behavioral Finance dann überhaupt befassen? Man kann konzedieren, dass Behavioral Finance zur Selbstreflexion anleitet: dass wir als Menschen anfällig sind für Herdenverhalten; dass wir Informationen, die unsere Meinung stützen, stärker beachten als Informationen, die sie in Frage stellen; und dass uns ein Verlust in Höhe von X härter trifft als ein Gewinn in Höhe von X. Kurzum, dass wir zuweilen unsere Urteilskraft überschätzen, „emotionalen“ und „irrationalen“ Entscheidungen anheimfallen.
Doch – und das ist die zentrale Frage – wie muss ich denn nun vorgehen, um erfolgreich zu investieren? Muss ich mich dem Herdentrieb entsagen? Muss ich affirmative Informationen meiden?
Spätestens hier zeigt sich, dass die Anhänger der Behavioral Finance entweder keine Theorie für erfolgreiches Investierens vorzuweisen haben, mit der sie aufzeigen können, wie man vernünftige Entscheidungen trifft – oder dass sie sich als Anhänger der modernen Finanzmarkttheorie – mit all ihren Defiziten – zu erkennen geben.
Was kann der umsichtige Investor daraus lernen? Antwort: Studiere eingehend, wie erfolgreiche Investoren vorgehen, vor allem was sie über das Auf und Ab der Börsenkurse denken, welche Bedeutung sie der Wertfindung ihrer Investments zumessen, und wie wenig sie über Börsenpsychologie nachdenken.
Daher am Schluss eine Buchempfehlung: Philip A. Fischer (2003), Common Stocks and Uncommon Profits. Ein Werk, das erhellender ist als all das, was Behavioral Finance dem umsichtigen Investor anzubieten hat.