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Quelle: REUTERS

Die blockierte Zinswende

Thorsten Polleit
Thorsten Polleit Chefvolkswirt der Degussa

Trotz der drei Prozent auf zehnjährige US-Staatsanleihen: Eine echte Zinswende wird es nicht geben, so wie die Zentralbanken sie blockieren. Damit steht der Weg offen für höhere Aktienkurse und -bewertungen.

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Die Rendite der zehnjährigen US-Staatsanleihen ist am Dienstag zumindest vorübergehend über die Drei-Prozent-Marke geklettert – und zieht die Renditen in anderen Währungsräumen mit sich. Zwar sind die Kapitalmarktzinsen in historischer Betrachtung gesehen nach wie vor niedrig. Aber sie haben nun doch ein Niveau erreicht, bei dem so manchen Investor sich vermutlich fragt, ob die Zinsen in Konflikt geraten mit der bislang ungetrübten Euphorie auf den Aktienmärkten: Hier kennen die Kurse seit etwa März 2009 nur eine Richtung: nach oben.

Das Wort „Zinswende“ macht die Runde und sorgt für Verunsicherung. Vielleicht gerade deshalb, weil nicht klar ist, was unter einer Zinswende genau zu verstehen ist. Zwei Interpretationen drängen sich auf. Interpretation eins: Eine Zinswende ist – schlicht und einfach – ein Ansteigen der Zinsen. So gesehen markiert beispielsweise der Renditeanstieg der 10-jährigen Bundesanleihe von minus 0,182 Prozent am 8. Juli 2016 bis auf 0,64 Prozent Mitte April 2018 eine Zinswende.

Interpretation II: Um eine Zinswende handelt es sich, wenn die Zinsen über ihren Trend hinaus ansteigen. Bei dieser Deutung ergeben allerdings zwei Fragen: Wie ermittelt man den Zinstrend? Und markiert jeder (auch ein kleiner und nur vorübergehender) Anstieg über den Trend hinaus schon eine Zinswende? Auf diese Fragen lassen sich vermutlich keine für alle zufriedenstellenden Antworten geben.

Die Kurzfristperspektive: Ausgewählte Staatsanleiherenditen, 10 Jahre Laufzeit, in ProzentQuelle: Thomson Financial

Die langfristigen US-Zinsen befinden sich nun oberhalb ihres bereits Dekaden andauernden Abwärtstrends. Setzt sich das fort, hätte man es mit einer echten Zinswende zu tun im Sinne der Interpretationen I und II. Würde das vielleicht sogar eine Rückkehr zu Langfristzinsen von, sagen wir, vier oder fünf Prozent wahrscheinlich machen? Einer Antwort kommt man näher, wenn eine vorgelagerte Frage geklärt ist: Warum sind die Zinsen überhaupt so niedrig?

Dass der Zins im Zeitablauf fällt – dass er heute deutlich niedriger ist als vor 40 Jahren –, lässt sich beispielsweise durch gesunkene Inflationserwartungen erklären. Die Menschen sind zudem wohlhabender geworden, ihre Ersparnisse sind gestiegen. Das hat ebenfalls dazu beigetragen, dass die Zinsen gesunken sind. Zusätzlich zu diesen „natürlichen Faktoren“ gibt es aber auch einen „unnatürlichen Faktor“, der in die gleiche Richtung arbeitet: das staatlich beherrschte ungedeckte Fiat-Geldsystem.

Boom-und-Bust durch Fiat-Geld

Staatliche Zentralbanken, in enger Kooperation mit den privaten Geschäftsbanken, geben im Zuge der Kreditvergabe ungedecktes Geld, oder: Fiat-Geld, aus. Sie schaffen neues Geld sprichwörtlich „aus dem Nichts“, und es wird über den Kreditmarkt in die Volkswirtschaften eingespeist. Das erhöhte Kredit- und Geldmengenangebot drückt die Marktzinsen künstlich herunter. Eine Folge ist, dass die Ersparnis abnimmt, während Konsum und Investitionen ansteigen. Ein konjunktureller Scheinaufschwung, ein „Boom“, kommt in Gang.

Doch die Konjunkturblüte ist ökonomisch nicht durchhaltbar. Früher oder später geht die „Party“ zu Ende. Droht der Boom in einen Abschwung („Bust“) umzuschlagen, senken die Zentralbanken die Zinsen noch weiter ab. Diese Praxis sorgt dafür – weil sie von Zyklus zu Zyklus wiederholt wird –, dass die Zinsen im Zeitablauf auf immer niedrige Niveaus abgesenkt werden: Der Zins, nachdem er erst einmal in der Krise gesenkt wurde, kann nicht wieder auf sein Vorkrisenniveau angehoben werden, ohne eine neuerliche Wirtschafts- und Finanzkrise auszulösen.

Die Langfristperspektive: US-Leitzins und Rendite der 10-jährigen US-Staatsanleihe, in ProzentQuelle: Thomson Financial

Weil die Volkswirtschaften einer „Bereinigungskrise“ entkommen wollen, begeben sie sich in die Abhängigkeit einer Geldpolitik, die den Zins im Zeitablauf auf immer niedrigere Niveaus herabschleust – und die Verschuldungslasten anwachsen lässt. Von Mitte 2007 bis zum dritten Quartal 2017 ist die globale Verschuldung (ohne Finanzsektor) um fast 36 Prozentpunkte auf nunmehr 245 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung angeschwollen! Was dabei besonders delikat ist: Der Verschuldungsaufbau hat sich in einem Umfeld extrem niedriger Zinsen vollzogen.

Zinskontrolle

Fällige Kredite wurden nicht zurückgezahlt, sondern umgeschuldet in Kredite mit sehr niedrigem Zins. Zudem wurden auch noch zusätzliche Kredite aufgenommen, die ebenfalls einen niedrigen Zins tragen. Steigende Kreditkosten können den Schuldnern nun gefährlich werden. Daher haben die Zentralbanken begonnen, den Zins zu kontrollieren: Sie begnügen sich nicht mehr damit, nur den Kurzfristzins zu setzen, sondern durch ihre Wertpapierkäufe beeinflussen sie jetzt auch direkt (und maßgeblich) die Langfristzinsen.

Bewährte Prinzipien

Der Zins ist daher kein Phänomen des freien Marktes mehr, sondern er ist zu einem „Politikum“ geworden. Und wenn der politische Wunsch, den Zins niedrig zu halten, auf die geldpolitische Macht stößt, den Zins niedrig halten zu können, so ist es sehr wahrscheinlich, dass der Zins niedrig bleibt. Damit kommt es nicht zu einer ungewollten Zinswende – die sich die Volkswirtschaften im Grunde auch gar nicht mehr leisten können. Die Zentralbanken – die machtvollen Monopolproduzenten des Geldes – schleusen den Marktzins auf das politisch gewünschte Niveau.

Die Finanzmarktakteure scheinen darauf zu setzen – und keineswegs unbegründet –, dass die Zentralbanken die Zinsen nicht allzu stark anheben werden; dass sie die Zinsen im Fall der Fälle rasch auf oder unter die Nulllinie zwingen und auch Schulden im großen Stile monetisieren werden. Eine solche Geldpolitik schließt zwar Preisrücksetzer auf den Vermögensmärkten nicht aus, wohl aber ein endgültiges Ende der chronischen Güterpreis- beziehungsweise Vermögenspreisinflation, für die die Zentralbanken in den letzten Jahrzehnten gesorgt haben.

Was heißt das für den Investor? Er ist gut beraten, weiterhin an drei bewährten Prinzipien festzuhalten.

Erstens: Als Investor sollte er sich grundsätzlich auf einen langfristigen Investitionshorizont festlegen (von fünf Jahren und mehr). Angesichts des Auf und Ab der Börsenkurse schützt das vor unüberlegten Handlungen, die einem bekanntlich teuer zu stehen kommen können – indem beispielsweise zu früh verkauft und zu spät gekauft wird.

Zweitens: Weiter unbeirrt in Aktien von „großartigen Unternehmen“ investieren – in Aktien von Unternehmen, die sich durch Wettbewerbsvorteile auszeichnen, und die auch unter schwierigen wirtschaftlichen und monetären Bedingungen nicht aus dem Markt ausscheiden. Sie eröffnen die Möglichkeit, langfristig eine positive Rendite auf das eingesetzte Kapital nach Abzug der Inflation erzielen zu können.

Drittens: Sicherstellen, dass man nicht zu teuer kauft. Denn selbst das beste Unternehmen ist dann keine gute Investition. Der Abstand zwischen dem Wert des Unternehmens (das ist der Barwert aller abgezinsten künftigen Unternehmensgewinne) und dem Preis (Börsenkurs), den man zahlt, muss groß genug ausfallen; die „Sicherheitsmarge“, die das Risiko eines Kapitalverlustes vermindert, muss ausreichend hoch sein.

Niedriger Zins, hohe Bewertungen

An dieser Stelle kommt auch der Zins – und das Szenario der blockierten Zinswende – ins Spiel. Mit ihm werden die künftigen Unternehmensgewinne abdiskontiert, und damit beeinflusst der Zins unmittelbar die Bewertung der Aktien.

Doch welchen Zins soll man verwenden? Antwort: Es kommt auf die Opportunität des Investors an. Wenn er die Alternative hat, sein Geld mit zehn Prozent zu investieren, sollte er sich beim Abzinsen der erwarteten Unternehmensgewinne auch an dieser Rate orientieren.

Der Investor sollte allerdings nicht die gegenwärtige, sondern die künftige, die im Investitionszeitraum zu erwartende Opportunität ins Auge fassen. Wer meint, die Zinsen im Fiat-Geldsystem werden tatsächlich von den Zentralbanken in den kommenden zehn Jahren noch näher in Richtung Nulllinie geschoben, der hätte Grund, mit einem Langfristzins von weniger als 2,6 Prozent – dem Durchschnitt der Jahresrendite für zehnjährige US-Staatsanleihen in der letzten Dekade – zu rechnen.

In einem solchen Fall würden natürlich auch andere Renditemöglichkeiten, die die Opportunitäten des Investor ausmachen, fallen – beziehungsweise auf dem Weg dorthin würden die Preise für zum Beispiel Aktien weiter in die Höhe befördert. Steigende Bewertungsniveaus für Aktien, getrieben durch steigende Kurse, sind also im weltweit entfesselten Fiat-Geldsystem bis auf weiteres ein Szenario, mit dem sich der umsichtige Investor verstärkt auseinandersetzen sollte.

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