Intelligent investieren

Oscar Wildes Zynismus hilft dem Investor

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Die Dinge so sehen, wie sie nun einmal sind

Was zu lernen ist: Erweisen sich Kursverluste am Gesamtaktienmarkt als vorübergehend, als nicht als dauerhaft – und das ist in den vergangenen Jahrzehnten in den meisten Ländern der Fall gewesen –, ist die „Rein-Raus-Strategie“ eine heikle Sache: Wenn Sie dann das „Markt-Timing“ nicht wirklich beherrschen – wenn Sie zu spät verkaufen (nach dem Kurshoch) und zu spät wieder einsteigen (nach dem Kurstief) –, leidet ihre Investitionsrendite aus zwei Gründen: zum einen verpassen Sie Rendite, zum anderen schmilzt Ihr Investitionskapital.

Letzteres erklärt sich wie folgt. Nehmen Sie an, Sie haben 10.000 Euro und kaufen dafür 100 Aktien zum Kurs von 100 Euro. Daraufhin fällt der Kurs auf, sagen wir, 60 Euro. Halten oder verkaufen? Sie verlieren die Nerven und verkaufen – und haben nur noch 6.000 Euro. Dann steigt der Kurs auf, sagen wir, 80 Euro, und Sie investieren wieder. Allerdings können Sie sich mit Ihren 6.000 Euro nur noch 75 Aktien leisten. Selbst wenn also der Aktienkurs nachfolgend auf 200 Euro steigt, kommen sie nur noch auf ein Vermögen von 15.000 Euro – im Vergleich zu 20.000 Euro bei der Durchhalte-Strategie („Buy-and-Hold“).

Auf Dauer besser als der Markt?

Das voranstehende Beispiel führt uns der zentralen Frage, die sich jeder Investor stellen sollte, und die er sich auch gut überlegt beantworten sollte. Sie lautet: Kann ich besser abschneiden als der Aktienmarkt, ja oder nein? Wenn Sie meinen, dass Sie es nicht können, dann ist es nur folgerichtig, wenn Sie passiv investieren, sich also einen Welt-Aktienmarkt-Index oder -ETF kaufen.

Denn kommen Sie gut begründet zum Schluss, dass Sie mit Ihren Investitionsentscheidungen keine Rendite erzielen können, die dauerhaft höher ausfällt als die Rendite des Gesamtmarktes, ist die logische Konsequenz, die Finger ganz vom Markt-Timing und auch von Auswahlentscheidungen („Stock Picking“) zu lassen. Sie sollten sich dann nicht einmal mehr Gedanken darüber machen, in welche Regionen (USA, Euro-Raum oder China) sie investieren sollen. Ein kostengünstiger Weltaktienmarktindex ist die Lösung für Sie.

Sollten Sie hingegen zum Schluss kommen: Ja, es ist möglich, dauerhaft besser abzuschneiden als der Weltaktienmarkt, müssen Sie sich fragen, auf welche Weise Sie aktiv investieren wollen und können. Eine Möglichkeit ist, auf Markt-Timing zu setzen. Doch das ist – wie bereits angeführt – für die meisten Investoren kein gangbarer Weg. Bleibt noch, die „Outperformance“ über Aktienselektion erzielen zu wollen: Man investiert ganz gezielt in Unternehmen, die dauerhaft hohe Renditen auf das eingesetzte Kapital erwirtschaften.

Dieser Ansatz ist allerdings mit Mühen und Zeit verbunden: Man muss passende Unternehmen aufspüren und ihre Geschäftsmodelle mit hinreichender Genauigkeit bewerten. Der eine oder andere Anleger verfügt vermutlich über genügend Interesse und Expertise, um diese Aufgaben zu meistern. Wer sich das jedoch nicht zutraut, der sollte mit passenden Investoren zusammenzuarbeiten: mit solchen Investoren, die sich auf Einzelwertanalyse konzentrieren, und die sich nicht in unerwünschte Markt-Timing-Kapriolen verzetteln.

Ob sie nun aber passiver oder aktiver Investor sind – Sie brauchen in jedem Fall einen langen Atem und müssen auch mal vorübergehende Kursrückschläge verkraften können. Market-Timing ist ohne Frage großartig, wenn es gelingt. Aber es kommt den Investor teuer zu stehen, wenn es daneben geht. Was mich betrifft: Ich kenne leider keinen Investor, der mit Markt-Timing langfristig wirklich erfolgreich geworden ist. Und leider kenne ich auch keinen, der jemanden kennt, der so zum Ziel gekommen wäre.

Vielleicht ist das ein Zynismus, den Oscar Wilde im Sinne hatte. Na, jedenfalls spricht viel dafür, dass Wildes Zynismus – die Dinge so zu sehen, wie sie nun einmal sind – den Investor weiterbringt.

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