Intelligent investieren
Manchmal mag es gelingen, die Aktien zu verkaufen, bevor die Kurse purzeln. Aber dahinter verbirgt sich meist keine systematisch-verlässliche Fähigkeit. Quelle: imago images

Oscar Wildes Zynismus hilft dem Investor

Thorsten Polleit
Thorsten Polleit Chefvolkswirt der Degussa

Illusionen sind der Feind des Anlegers, Realitätssinn ist stattdessen die notwendige Fähigkeit zum Erfolg an der Börse. Das gilt insbesondere beim Versuch den Markt zu schlagen. Warum dann Zynismus hilft.

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Zynisch ist, wer eine Denk- und Handlungsweise an den Tag legt, die bewusst die Gefühle anderer verletzt, die gesellschaftliche Konventionen übertritt. Man kann es aber auch so sehen wie der irische Schriftsteller Oscar Wilde (1854 – 1900), der schrieb: „Zynismus ist nur die Kunst, die Dinge zu sehen, wie sie sind, nicht wie sie sein sollten.“ Wildes Verständnis von Zynismus dürfte Ihnen als Investor helfen: Denn wenn man erfolgreich investieren will, muss man den Dingen auf den Grund gehen, sie sehen, wie sie wirklich sind; man darf Illusionen nicht aufsitzen, darf der Herde nicht blindgläubig folgen.

Dazu gehört aber beispielsweise auch, sich mit dem Wunsch „Oben verkaufen, unten kaufen“ besonders kritisch auseinanderzusetzen – denn er ist besonders verlockend: Wem es gelingt, oben zu verkaufen und unten zu kaufen, dem winkt eine hohe Investitionsrendite. Doch woher weiß man, wann der Markt „oben“ und wann er „unten“ ist? Vermutlich ist es nicht übertrieben zu sagen, dass die große Mehrheit der Investoren ein solches „Markt-Timing“ nicht beherrscht. Manchmal mag es gelingen, die Aktien zu verkaufen, bevor die Kurse purzeln. Aber dahinter verbirgt sich meist keine systematisch-verlässliche Fähigkeit.

Dennoch gaukeln die Angebote der Banken- und Finanzbranche den Kunden häufig vor, mit Markt-Timing ließe sich etwas verdienen: Berater sagen Ihnen, dass es wieder einmal Zeit sei für eine „Branchenrotation“; oder für eine Umschichtung des Kapitals von einer Region (USA) in eine andere (Euro-Raum); oder, weil die Konjunktur sich nun abschwächt, müssten Sie von zyklischen in antizyklische Aktien umschichten. Der Anleger hat meist das Nachsehen: Die Finanzbranche verdient prächtig an den Gebühren, die Sie zu zahlen haben – und das schmälert Ihre Rendite: Das Hin und Her macht Ihre Taschen leer.

Aber der Einfluss der Finanzindustrie ist groß und erklärt wohl auch, warum das Markt-Timing nach wie vor weit verbreitet ist. Das Markt-Timing lockt nämlich nicht nur mit der Hoffnung auf eine hohe Investitionsrendite. Mit dem Markt-Timing ist auch die Hoffnung verbunden, schmerzlichen (Buch-)Verlusten im Depot entgehen zu können. Nach dem Motto: Der Aktienmarkt ist zu heiß gelaufen, ich steige jetzt erstmal aus und nehme Gewinne mit – und das hat ja noch niemandem geschadet. Und dann halte ich mein Pulver erst einmal trocken. Wenn der Markt korrigiert hat, steige ich wieder ein.

Doch ganz so einfach ist die Sache leider nicht. Lassen Sie uns daher die Renditechancen und -risiken, die mit einem Market-Timing verbunden sind, illustrieren mit einem einfachen Beispiel:

Wer im Januar 2005 in den S&P-Aktienmarktindex investiert hat und geduldig bis Mitte September 2018 investiert geblieben ist, der konnte eine jahresdurchschnittliche Rendite von 8,9 Prozent erzielen (ohne Berücksichtigung von Dividenden). Aus 10.000 US-Dollar wurden also nach fast 14 Jahren 31.106 US-Dollar – eine satte Verdreifachung des eingesetzten Kapitals.

Performance des S&P und zweier Markt-Timing-StrategienSerien sind indexiert (Januar 2005 = 10.000)Quelle: eigene Berechnungen

Wer ein besonders gutes Näschen hatte, das ihm signalisiert hat, bereits im Oktober 2007 alle Aktien zu verkaufen (der S&P stand da auf einem Rekordwert von 1.547 Punkten) und im März 2009 wieder in den Index zu investieren (das war der Tiefstand des S&P 500 von weniger als 700 Punkten), der konnte eine jahresdurchschnittliche Rendite von 15 Prozent erzielen: Aus 10.000 US-Dollar wurden 68.477 US-Dollar – bis heute fast eine Versiebenfachung des eingesetzten Kapitals!

Doch was, wenn Ihnen das „Markt-Timing“ nicht so gut gelungen wäre? Wenn Sie also zu spät verkauft hätten (beispielsweise im Dezember 2008, der S&P 500 stand bei 1.309 Punkten) und „zu spät“, sagen wir erst im Februar 2010 (der S&P 500 stand schon bei 1.797 Punkten) wieder investiert hätten? Ihre Investitionsrendite wäre jahresdurchschnittlich lediglich 6,4 Prozent gewesen: Aus 10.000 US-Dollar wären nur 23.398 US-Dollar geworden.

Die Dinge so sehen, wie sie nun einmal sind

Was zu lernen ist: Erweisen sich Kursverluste am Gesamtaktienmarkt als vorübergehend, als nicht als dauerhaft – und das ist in den vergangenen Jahrzehnten in den meisten Ländern der Fall gewesen –, ist die „Rein-Raus-Strategie“ eine heikle Sache: Wenn Sie dann das „Markt-Timing“ nicht wirklich beherrschen – wenn Sie zu spät verkaufen (nach dem Kurshoch) und zu spät wieder einsteigen (nach dem Kurstief) –, leidet ihre Investitionsrendite aus zwei Gründen: zum einen verpassen Sie Rendite, zum anderen schmilzt Ihr Investitionskapital.

Letzteres erklärt sich wie folgt. Nehmen Sie an, Sie haben 10.000 Euro und kaufen dafür 100 Aktien zum Kurs von 100 Euro. Daraufhin fällt der Kurs auf, sagen wir, 60 Euro. Halten oder verkaufen? Sie verlieren die Nerven und verkaufen – und haben nur noch 6.000 Euro. Dann steigt der Kurs auf, sagen wir, 80 Euro, und Sie investieren wieder. Allerdings können Sie sich mit Ihren 6.000 Euro nur noch 75 Aktien leisten. Selbst wenn also der Aktienkurs nachfolgend auf 200 Euro steigt, kommen sie nur noch auf ein Vermögen von 15.000 Euro – im Vergleich zu 20.000 Euro bei der Durchhalte-Strategie („Buy-and-Hold“).

Auf Dauer besser als der Markt?

Das voranstehende Beispiel führt uns der zentralen Frage, die sich jeder Investor stellen sollte, und die er sich auch gut überlegt beantworten sollte. Sie lautet: Kann ich besser abschneiden als der Aktienmarkt, ja oder nein? Wenn Sie meinen, dass Sie es nicht können, dann ist es nur folgerichtig, wenn Sie passiv investieren, sich also einen Welt-Aktienmarkt-Index oder -ETF kaufen.

Denn kommen Sie gut begründet zum Schluss, dass Sie mit Ihren Investitionsentscheidungen keine Rendite erzielen können, die dauerhaft höher ausfällt als die Rendite des Gesamtmarktes, ist die logische Konsequenz, die Finger ganz vom Markt-Timing und auch von Auswahlentscheidungen („Stock Picking“) zu lassen. Sie sollten sich dann nicht einmal mehr Gedanken darüber machen, in welche Regionen (USA, Euro-Raum oder China) sie investieren sollen. Ein kostengünstiger Weltaktienmarktindex ist die Lösung für Sie.

Sollten Sie hingegen zum Schluss kommen: Ja, es ist möglich, dauerhaft besser abzuschneiden als der Weltaktienmarkt, müssen Sie sich fragen, auf welche Weise Sie aktiv investieren wollen und können. Eine Möglichkeit ist, auf Markt-Timing zu setzen. Doch das ist – wie bereits angeführt – für die meisten Investoren kein gangbarer Weg. Bleibt noch, die „Outperformance“ über Aktienselektion erzielen zu wollen: Man investiert ganz gezielt in Unternehmen, die dauerhaft hohe Renditen auf das eingesetzte Kapital erwirtschaften.

Dieser Ansatz ist allerdings mit Mühen und Zeit verbunden: Man muss passende Unternehmen aufspüren und ihre Geschäftsmodelle mit hinreichender Genauigkeit bewerten. Der eine oder andere Anleger verfügt vermutlich über genügend Interesse und Expertise, um diese Aufgaben zu meistern. Wer sich das jedoch nicht zutraut, der sollte mit passenden Investoren zusammenzuarbeiten: mit solchen Investoren, die sich auf Einzelwertanalyse konzentrieren, und die sich nicht in unerwünschte Markt-Timing-Kapriolen verzetteln.

Ob sie nun aber passiver oder aktiver Investor sind – Sie brauchen in jedem Fall einen langen Atem und müssen auch mal vorübergehende Kursrückschläge verkraften können. Market-Timing ist ohne Frage großartig, wenn es gelingt. Aber es kommt den Investor teuer zu stehen, wenn es daneben geht. Was mich betrifft: Ich kenne leider keinen Investor, der mit Markt-Timing langfristig wirklich erfolgreich geworden ist. Und leider kenne ich auch keinen, der jemanden kennt, der so zum Ziel gekommen wäre.

Vielleicht ist das ein Zynismus, den Oscar Wilde im Sinne hatte. Na, jedenfalls spricht viel dafür, dass Wildes Zynismus – die Dinge so zu sehen, wie sie nun einmal sind – den Investor weiterbringt.

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