Niedrigzinsen Stimmt es, dass das Zinstief die Deutschen enteignet?

Wegen der Niedrigzinsen ist der Blick auf den Kontoauszug für viele Sparer kein Vergnügen Quelle: dpa

Deutschlands Sparer ächzen seit Jahren unter den Niedrigzinsen. Manche sprechen gar von einer Enteignung. Doch ein genauer Blick in die Zahlen zeigt: Der Großteil der Deutschen leidet kaum unter der Zinsflaute.

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Die Zahl ist enorm: 436 Milliarden Euro haben die Deutschen seit dem Jahr 2010 durch die niedrigen Zinsen verloren. Das hat die DZ Bank errechnet und den Betrag zusätzlich auf jeden Deutschen umgelegt. Rein statistisch hat jeder Bundesbürger demnach 5317 Euro verloren.

Doch schon hier beginnen die Probleme, denn den durchschnittlichen Bundesbürger aus der Statistik gibt es nicht. Stattdessen klaffen die Vermögensverhältnisse in Deutschland weit auseinander – und damit auch die Frage, inwiefern jeder einzelne unter dem Zinstief leidet. Dass die Deutschen in der Mehrheit enteignet würden, wie manche Kritiker monieren, lässt sich bei näherer Betrachtung nicht halten.

Ein Blick in die Statistik der Bundesbank offenbart, dass die oberen zehn Prozent der Deutschen knapp 60 Prozent des Nettovermögens halten. Die unteren zehn Prozent der Deutschen haben hingegen ein negatives Vermögen, im Klartext: Sie sind verschuldet. Die darüberliegenden 30 Prozent haben so gut wie kein Vermögen, nämlich im Mittel nur gut 11.000 Euro. Oder, wie Markus Grabka es formuliert, der am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) Berlin über Vermögensverteilung forscht: „Der Großteil der Bevölkerung hat kein nennenswertes Geldvermögen, ihm sind die niedrigen Zinsen also nahezu egal.“

Mit Blick auf die vermeintliche Enteignung heißt das: Die unteren 40 Prozent der Deutschen werden von den Niedrigzinsen kaum beeinträchtigt oder profitieren sogar davon. Wer Schulden hat, hat dank der Nullzinsen netto mehr Geld in der Tasche – beziehungsweise nicht so viel weniger wie zuvor. Und das ist nur die untere Seite der Vermögensskala. Auch am oberen Rand der Vermögensverteilung kann kaum von einer Enteignung durch Niedrigzinsen gesprochen werden. Denn das Zinstief trifft vor allem den klassischen Sparer, der sein Geld auf Konten oder in Versicherungen angelegt hat.

Die oberen zehn bis 20 Prozent legen ihr Geld hingegen in der Regel in gewinnversprechenderen Anlageformen an, in Aktien oder Fonds etwa. „Die können sich das Risiko leisten und beschäftigen ohnehin meist Berater, die die renditeträchtigsten Anlagen suchen“, sagt Grabka. Tatsächlich haben sich die Börsenkurse in den vergangenen Jahren steil nach oben entwickelt – auch dank der Niedrigzinsen, die mehr Anleger an die Börse getrieben haben.

Den Zahlen der Bundesbank zufolge haben die oberen zehn Prozent im Mittel knapp 180.000 Euro in Aktien und Fonds investiert. Auf Giro- oder Sparkonten liegen hingegen im Mittel nur 75.000 Euro. Da die Zinsgewinne am Aktienmarkt deutlich höher sind als die Verluste durch die Niedrigzinsen, haben die Haushalte also ihr Vermögen vermehrt.

In Zahlen: Bei einer Inflation von 1,8 Prozent und einem durchschnittlichen Zinssatz von 0,3 Prozent für Tagesgeld litten Sparer 2017 großzügig gerechnet unter einem Realzins von minus 1,5 Prozent. Der Dax hingegen verzeichnete 2017 ein Plus von 12,5 Prozent. Selbst abzüglich der Inflation machten Anleger also im Schnitt knapp elf Prozent Gewinn. Bei den darunterliegenden zehn Prozent der Vermögen halten sich die in Konten und an der Börse investierten Summen mit durchschnittlich jeweils etwa 61.000 Euro ungefähr die Waage. Durch den deutlich höheren Zinsgewinn an der Börse haben aber auch diese Menschen der Statistik zufolge netto mehr Geld hinzugewonnen.

Für 60 Prozent der Deutschen sind die Niedrigzinsen unproblematisch - mindestens

Hinzu kommt, dass die oberen 20 Prozent außergewöhnlich viel Geld in Immobilien investiert haben. Hier profitieren sie einerseits von der deutlichen Wertsteigerung – laut Empirica wurde Wohneigentum allein im Jahr 2017 im Schnitt um sieben Prozent teurer. Zudem haben sie überdurchschnittlich hohe Immobilienkredite, nämlich im Schnitt über knapp 270.000 Euro bei den obersten zehn Prozent und 208.000 Euro bei den darauffolgenden zehn Prozent. Auch hier wirkt der Nullzins unterstützend, weil er die ohnehin vorhandene Kreditlast mindert.

Für insgesamt 60 Prozent der Deutschen sind die Niedrigzinsen also effektiv unwichtig oder sogar förderlich - mindestens. Zum Problem werden die Zinsen hingegen ausgerechnet für die Mitte der Gesellschaft. Die ist es, die ihr Geld vor allem auf festverzinsten Konten, in Lebensversicherungen oder der Riesterrente angelegt hat – alles Anlageformen, die besonders unter den Niedrigzinsen leiden.

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Der Bundesbank zufolge haben die mittleren 20 Prozent der Bevölkerung im Schnitt 21.000 Euro auf Spar- und Girokonten. Im darüberliegenden Quintil sind es gut 31.000 Euro. Hinzu kommen Riester- und Rüruprenten in Höhe von 7000 beziehungsweise 11.000 Euro. Das entspricht einem großen Anteil der gesamten Finanzvermögen dieser beiden Gruppen, die im Mittel bei knapp 33.000 beziehungsweise bei knapp 56.000 Euro liegen. Die Angst vor gewinnbringenderen – und risikoträchtigeren – Anlageformen wie etwa Aktien sind in den mittleren Vermögensgruppen hingegen weit verbreitet.

Es sind also nicht „die Deutschen“, die durch die Niedrigzinsen enteignet werden, im Gegenteil: Die obere und die untere Seite der Vermögensskala leiden kaum unter dem Zinstief. Ausgerechnet die Mitte der Gesellschaft erleidet jedoch tatsächlich deutliche Einbußen. Oder, wie DIW-Experte Grabka bilanziert: „Die Mitte hat ein echtes Problem.“  

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