Performance-Psychologie „Beim Sport gibt es mal eine Pause. Die Märkte aber sind unerbittlich“

Die Snowboaderin Lindsey Jacobellis holte in China zwei Goldmedaillen. Wall-Street-Psycho-Coach Denise Shull half ihr zurück zum Erfolg. Quelle: REUTERS

Die Snowboaderin Lindsey Jacobellis, berühmt vor allem für einen Patzer, der sie 2006 einen sicheren Sieg kostete, holte in China zwei Goldmedaillen. Wall-Street-Psycho-Coach Denise Shull half ihr zurück zum Erfolg.

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WirtschaftsWoche: Hat es Sie überrascht, dass Lindsey Jacobellis bei den Olympischen Spielen in China zweimal Gold gewonnen hat – endlich?
Denise Shull: Ich habe keine Worte, so begeistert bin ich. Snowboarden ist ein irrer Sport. Aber ich hatte das Gefühl, dass es ihr diesmal gelingen würde.

Seit Jacobellis 2006 kurz vor dem Ziel übermütig an ihr Board griff, dabei stürzte und das sichere Gold verlor, hat sie viele Rennen gewonnen – aber nie die Olympischen Spiele.
Lindsey litt unter einer Event-spezifischen Performancekrise. Bei den Spielen 2010 und 2014 qualifizierte sie sich nicht einmal für das Finale. 2018, nachdem sie mit mir zu arbeiten begonnen hatte, verpasste sie die Medaille nur um eine halbe Sekunde. Die Öffentlichkeit und die Presse setzen sie sehr unter Druck – kaum jemand ist für einen Fehler so sehr auseinandergenommen worden wie sie. Selbst als zehn Jahre nach ihrem Patzer den Cleveland Cavaliers ein großer Fehler unterlief, brachten die Medien Rankings der größten Fehler der Sportgeschichte. Und Lindsey war auf Platz drei – eine Dekade nach dem verlorenen Gold. Bei jeder Olympiade fragten die Reporter sie, ob sie die Schlappe endlich wiedergutmachen würde.

Wie haben Sie ihr geholfen, diesen öffentlichen Druck besser auszuhalten?
Gefühle kommen in Schichten. Offensichtlich war sie damals 20 und feierte zu früh. Aber tiefer lief auch die Rebellion eines Teenagers ab, der sich definieren wollte – jenseits der erstklassigen Athletin, die ihre Familie und ihr Coach in ihr sahen. Ich half ihr, das zu durchschauen. Andere 19-Jährige probieren Drogen aus oder hängen ihr Studium an den Nagel, um ihren Eltern klarzumachen, dass sie nicht diejenigen sind, die die in ihnen sehen wollen. All die Jahre hatte Lindsey sich darüber geärgert und sich schuldig gefühlt. Erst als ihr diese unterbewusste Rebellion klar wurde, konnte sie sich verzeihen. Bei den Olympischen Spielen hat sie ihr Bord sogar wieder gegriffen, nach einem besonders schwierigen Sprung. Sie ist jetzt eben eine erwachsene Frau.

Zur Person

Eigentlich arbeiten Sie häufiger mit Hedgefonds-Managern als mit Sportlern. Sind deren Probleme vergleichbar?
Beide können in einem ganz ähnlichen Performancetief steckenbleiben. Man muss ihnen helfen, ihre unbewussten Gefühle zu verarbeiten. Das ist im Sport meistens viel einfacher als in der Vermögensverwaltung. Beim Sport ist klar, was man tun muss: Das Spiel kommt, man gewinnt oder verliert – und hat dann erst mal eine Pause. Die Märkte aber sind unerbittlich. Nicht nur gibt es niemals eine Pause, es gibt mehr Zweifel darüber, was der richtige Schritt ist. Am Markt ist es viel schwieriger, über Jahre hinweg überdurchschnittlich erfolgreich zu bleiben. Das ist mental herausfordernder.

An der Börse gibt es ebenso öffentliche Niederlagen wie im Sport – aktuell steht die Staranlegerin Cathie Wood von Ark Invest massiv unter Druck, nachdem ihr Fonds um 60 Prozent eingebrochen ist.
Cathy hat gerade eine schwere Zeit – und schon in der Vergangenheit wurde mit ihr härter umgegangen, weil sie eine Frau ist. Aber ich habe sie nie analysiert. Jüngst gab sie ein 90 Minuten langes Fernsehinterview auf CNBC und zeigte dabei keinerlei Schwäche. Sie erscheint völlig undurchdringlich – und verlässt sich auf ihr Research. Sie scheint zu glauben, dass ihre Entscheidungen langfristig richtig sind, und lässt sich von kurzfristigeren Trends nicht einschüchtern.

Finden Sie in der aktuellen Korrektur an den Börsen besonders viele neue Kunden?
Das denkt jeder, aber mit einem Selloff kommen viel gut zurecht – insbesondere, wenn sie zuvor auf fallende Kurse gesetzt hatten. Meine Kunden melden sich oft ein halbes Jahr später, wenn sie aus einem Performanceloch nicht wieder herausfinden. 65 Prozent meiner Kunden melden sich einfach, um besser zu werden. 35 Prozent stecken in einer sehr tiefen Krise. Aber in diesem Jahr sind die Märkte besonders schwierig, da gibt es schon mehr Nachfrage.

Psycho-Coach Denise Shull arbeitet seit Jahren mit bekannten Persönlichkeiten – auch aus der Wirtschaft. Quelle: PR

Wie drückt sich so eine persönliche Performancekrise aus?
Da gibt es ganz verschiedene Ausprägungen. Manche halten nicht lange genug an einer gewinnreichen Position fest, um von ihr zu profitieren. Andere machen das Gegenteil.

Was geht in jemandem vor, der stur an einer verlustreichen Position festhält?
Das Gefühl, Recht behalten zu müssen, speist sich aus dem Terror vor dem, was passiert, wenn man falschliegt: Oberflächlich betrachtet verliert man Geld, die Anleger ziehen ihr Geld ab, man ist vielleicht sogar seinen Job los. Oft aber kommen Gefühle aus der Kindheit mit ins Spiel, was dann passierte, wenn man versagte. Gerade habe ich gleich zwei Kunden aus Europa, die schulisch überaus erfolgreich waren. Aber ihre Eltern bestraften sie bei schlechten Noten so sehr, dass es an Kindesmisshandlung grenzt. Sie zwangen ihre Kinder geradezu, gut zu performen – und dadurch tragen diese Männer bis heute eine tief sitzende Versagensangst. Jetzt haben sie große, fast unmögliche Jobs – und in ihrem Unterbewusstsein koppeln sich ihre Anleger mit ihren Eltern. Das müssen sie zu trennen lernen.

Was geht in jemandem vor, der seiner eigenen Entscheidung für eine Position nicht vertraut?
Solch einen Kunden habe ich auch. Er wurde als Kind immer kritisiert für die Art, wie er seine Aufgaben zu Hause erledigte, ob das Geschirrspülen oder Rasenmähen war. Er war nie gut genug. Und heute zieht er jede seiner Positionen immer wieder neu in Zweifel.

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Ist es schwierig, diesen alten Mustern auf die Spur zu kommen?
Eigentlich nicht, wenn ich mir das Trading-Muster von jemandem anschaue, habe ich oft schon eine Vermutung, wo das Problem liegt. 95 Prozent der Kunden sind sehr offen mit gegenüber. Und die fünf Prozent, die keine Schwäche zugestehen wollen, führe ich mit ganz subtilen Fragen dazu, dass sie sich öffnen.

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