Schuldneratlas 2020 Altersüberschuldung wächst: „Perspektiven sind besorgniserregend“

Immer mehr alte Menschen können ihre Rechnungen nicht bezahlen. Quelle: dpa

Die Zahl der Senioren, die ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen können, steigt weiter dramatisch. Viele suchen Hilfe bei den Tafeln in Deutschland. Dennoch ist keine Besserung in Sicht – im Gegenteil.

  • Teilen per:
  • Teilen per:

Immer mehr alte Menschen in Deutschland können ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen. Seit 2013 habe sich die Zahl der überschuldeten Verbraucher im Alter ab 70 Jahren mehr als vervierfacht – auf mittlerweile rund 470.000 Betroffene. Das berichtete am Dienstag die Wirtschaftsauskunftei Creditreform in ihrem „Schuldneratlas 2020“. Zum Vergleich: Die Gesamtzahl aller überschuldeten Personen erhöhte sich im gleichen Zeitraum „nur“ um rund vier Prozent.
Allein in den vergangenen zwölf Monaten stieg die Zahl der überschuldeten Senioren ab 70 der Studie zufolge um 23 Prozent. Parallel erhöhte sich in der Altersgruppe der 60 bis 69-Jährigen die Zahl der Überschuldungsfälle um 13 Prozent auf rund 725.000. „Das Phänomen der Altersüberschuldung gewinnt noch stärker als in den Vorjahren an Bedeutung“, warnte der Geschäftsführer von Creditreform Boniversum, Michael Goy-Yun.

Mit dieser Einschätzung steht Creditreform nicht allein. Auch die Tafeln in Deutschland berichten über eine wachsende Not bei älteren Mitbürgern. Die Anzahl der Senioren, die bei den Tafeln Lebensmittel abholten, sei „innerhalb nur eines Jahres alarmierend gestiegen“, erklärte der Vorsitzender der Tafel Deutschland, Jochen Brühl. Bereits in 15 Jahren könne jede fünfte Rentnerin oder jeder fünfte Rentner von Altersarmut bedroht sein.
Die Gründe für die wachsende Altersarmut sind nach Einschätzung der Experten vielfältig. Einerseits machen sich hier nach früheren Angaben von Creditreform die Rentenreformen der vergangenen Jahrzehnte bemerkbar, die fast durchweg auf eine Kürzung des Sicherungsniveaus der gesetzlichen Rente abgezielt hätten. Außerdem wirkten sich die wachsende Zahl unsteter Erwerbsbiografien und das Anwachsen des Niedriglohnsektors aus. Auch der zum Teil dramatische Anstieg der Mieten spiele eine Rolle. Allerdings sind Überschuldungsfälle bei Senioren nach wie vor deutlich seltener als bei jüngeren Verbrauchern.

Altersarmut sei jedoch besonders schwerwiegend, betonten die Experten von Creditreform. Während jüngere Menschen Armut häufig als vorübergehende Lebensphase begriffen und über ein Perspektive verfügten, sich aus ihrer schwierigen Situation herauszuarbeiten, sei das bei älteren Menschen in der Regel nicht mehr der Fall. Mit dem Eintritt in den Ruhestand sinke die Chance älterer Menschen drastisch, ihre ökonomische Lage zu verbessern. Verschärft werde das Problem dadurch, dass die Betroffenen oft ihnen zustehende Sozialleistungen nicht in Anspruch nähmen.
Die dramatische Entwicklung bei den Senioren steht in auffälligem Gegensatz zur Entwicklung in den übrigen Altersgruppen. Denn trotz Corona ging die Zahl überschuldeter Personen in Deutschland in diesem Jahr insgesamt noch einem zurück und verringerte sich um 69.000 auf 6,85 Millionen. Die Überschuldungsquote, also der Anteil überschuldeter Personen im Verhältnis zu allen Erwachsenen in Deutschland, sank leicht auf 9,87 Prozent und lag damit erstmals seit vier Jahren unter der 10-Prozent-Marke.

In den Zahlen spiegele sich noch einmal die robuste Verfassung des Arbeitsmarktes bis zum Frühjahr 2020 wider. Dieser Positivtrend habe sich aber durch die Coronapandemie spätestens ab April gewendet, so die Experten. Für die nächsten Jahre rechnet Creditreform wegen der Pandemie mit einer deutlichen Verschlechterung der Situation. „Die langfristigen Perspektiven für die Überschuldungsentwicklung sind besorgniserregend“, sagte der Creditreform-Experte Patrik-Ludwig Hantzsch.
Kurzarbeit und wachsende Arbeitslosenzahlen führten im Augenblick dazu, dass viele Verbraucher in Deutschland weniger Geld zur Verfügung hätten. Rund 700.000 Menschen hätten zwischenzeitlich den Arbeitsplatz verloren, Millionen seien in Kurzarbeit und viele Freiberufler kämpften um ihre Existenz. Dies werde zeitlich versetzt zu einem Anstieg der Überschuldungsfälle führen. „Für viele Verbraucher in Deutschland geht die Überschuldungsampel in den nächsten Monaten auf Rot“, warnten die Creditreform-Experten.


Das interessiert WiWo-Leser heute besonders


Douglas ist kein Einzelfall

So schummels sich Ikea, Karstadt & Co. am Lockdown vorbei


„Doppelt so lang schwätzen, halb so viel verdienen“

Warum VW-Händler keine E-Autos verkaufen wollen


Curevac-Gründer Ingmar Hoerr

„Ich dachte, der KGB hätte mich entführt“


Was heute wichtig ist, lesen Sie hier



Jeder Zweite in Deutschland hat einer Umfrage der Deutsche Bank mit Unterstützung des Meinungsforschungsinstituts Ipsos zufolge Angst vor Altersarmut – doch für die private Vorsorge fehlen nach eigener Einschätzung fast ebenso vielen Menschen die Mittel. Demnach hat sich in weiten Teilen der Bevölkerung die Erkenntnis durchgesetzt, dass die gesetzliche Rente im Ruhestand eher nicht ausreichen wird: „Wir sehen ein ziemlich erschüttertes Vertrauen in die gesetzliche Rente“, sagte Thomas Hörter, Leiter Marktforschung Deutsche Bank. Nur 17 Prozent der 3200 Befragten von 20 bis 65 Jahren erwarten der Umfrage zufolge über die gesetzliche Rente im Alter eine ausreichende Versorgung.

Die Zahl der Rentner, die einer Erwerbsarbeit nachgehen, steigt weiter. 2019 waren laut Statistik der Bundesagentur für Arbeit rund 1,29 Millionen Menschen, die die Regelaltersgrenze erreicht hatten, weiter erwerbstätig. Das waren rund 400.000 oder 45 Prozent mehr als 2010, wie aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der AfD hervorgeht. Gegenüber 2005 seien es sogar 547.000 oder 73 Prozent mehr Rentner gewesen, die einer Erwerbstätigkeit nachgehen.

Mehr zum Thema: Eine finanzielle Absicherung im Alter – dies ist eines der wichtigsten Sparziele der Deutschen. Doch der langfristige Aufbau von Vermögen ist nicht gerade leicht.

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%