




Was wurde nicht schon alles unternommen, um die aktuelle Phase niedrigster Zinsen in einen historischen Kontext zu stellen. Den Vogel haben aber – wie so oft – humorbegabte britische Ökonomen abgeschossen: Sie haben versucht, die Zinsentwicklung seit dem Jahre 3000 vor Christus nachzuvollziehen. Sicherlich mit vielen Annahmen, aber dennoch mit einem plausiblen Ergebnis: so tief wie heute waren die Zinsen weltweit wohl noch nie.
Auch wenn man nicht so weit zurückgehen mag: Trotz des Anstiegs der Zinsen in den vergangenen Wochen liegt die Rendite der zehnjährigen deutsche Bundesanleihe noch immer um 330 Basispunkte unter ihrem Durchschnitt der Jahre 2000 bis 2010. Die Probleme, die das für Sparer aufwirft, sind hinreichend beschrieben. So beschäftigt uns alle die Frage, ob dieser Zustand von Dauer sein wird, oder ob die Zinsen doch bald wieder steigen.
Zum Autor
Daniel Stelter war von 1990 bis 2013 Unternehmensberater bei der Boston Consulting Group (BCG), zuletzt als Senior Partner, Managing Director und Mitglied des BCG Executive Committee. Seit 2007 berät Stelter internationale Unternehmen zu den Herausforderungen der fortschreitenden Finanzkrise. Zusammen mit David Rhodes verfasste er das 2010 preisgekrönte Buch „Nach der Krise ist vor dem Aufschwung“. Weitere Bücher folgten, aktuell hat Stelter eine Replik auf das Buch „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ des französischen Ökonomen Thomas Piketty unter dem Titel „Die Schulden im 21. Jahrhundert“ veröffentlicht. Stelter ist Gründer des auf Strategie und Makroökonomie spezialisierten Forums „Beyond the Obvious“, das Antworten auf die wirtschaftlichen und finanzpolitischen Fragen unserer Zeit sucht.
Weil es darauf keine eindeutige Antwort gibt, will ich sowohl die Argumente für dauerhaft niedrige Zinsen als auch für eine Zinswende anführen. Offensichtlich ist, dass es die Intervention der EZB war, die die Zinsen in Europa derart nach unten getrieben hat. Mario Draghis berühmtes Versprechen, „alles zu tun“ um den Euro zu erhalten, beschert den Schuldnern Europas weiterhin günstige Finanzierungskonditionen und bewahrt den Schuldenturm vor dem Einsturz. So wächst er zwar weiter, die Zinsbelastung fällt jedoch kontinuierlich. Die Sparer subventionieren die Schuldner. Würden die Zinsen steigen, wäre mit der Ruhe Schluss. Allein deshalb ist mit einer Fortführung der lockeren Geldpolitik der EZB zu rechnen. In unserem Wettstreit der Argumente: 1:0 für tiefe Zinsen.
Was macht die Fed?
In den USA warten die Märkte derweil seit Jahren auf die erste Zinserhöhung. Nun scheint diese im Herbst zu kommen. Wobei sich auch hier ein distanzierterer Blick lohnt: wenn überhaupt, wird es sich um eine eher kosmetische Erhöhung handeln. Auch in den USA ist ein Ende der Tiefstzinspolitik nicht absehbar. Zu schwach ist die wirtschaftliche Erholung, zu abhängig die Konjunktur vom kreditfinanzierten Konsum. 2:0 für tiefe Zinsen.
Doch haben die Notenbanken wirklich die Kontrolle über den Zins? Letztlich können sie nur sehr indirekt die Kreditvergabe der Banken beeinflussen. Was passiert, wenn die Inflationsraten mehr anziehen als heute erwartet? Was passiert, wenn doch wieder Zweifel an der Zahlungsfähigkeit der Schuldner aufkommen, zum Beispiel nach den Wahlen in Portugal und Spanien? Wer an die Allmacht der Notenbanken glaubt, erwartet dann eben noch größere Interventionen. Die Notenbanken können ja einen Zins festsetzen und zu diesem Preis alles aufkaufen. Die Wirkung für die Inflation könnte erheblich sein. Weil keiner dies genau vorhersagen kann, Unentschieden. 3:1.
Notenbanken rund um den Globus lockern ihre Geldpolitik
Im Kampf gegen einen gefährlichen Abwärtssog aus fallenden Preisen und schrumpfenden Investitionen senken immer mehr Notenbanken weltweit die Zinsen. Ein Überblick über die einzelnen Schritte seit dem 1. Januar.
Quelle: Reuters; Stand März 2015
Die Zentralbank von Usbekistan setzt ihren Refinanzierungssatz auf neun Prozent von bislang zehn Prozent nach unten.
Die Schweizer Notenbank (SNB) vollzieht eine radikale Kehrtwende und schafft den Mindestkurs des Franken zum Euro ab. Die Währungshüter begründen ihre überraschende Entscheidung mit dem immer stärker werdenden Dollar und dem anhaltend fallenden Euro. Gleichzeitig wird der Strafzins auf Einlagen von Banken bei der Notenbank auf 0,75 Prozent von 0,25 Prozent angehoben.
Die Notenbank von Ägypten senkt überraschend die Leitzinsen um 0,5 Punkte. Die Sätze für Übernachteinlagen und Kredite werden auf 8,75 beziehungsweise 9,75 Prozent gekürzt.
Perus Zentralbank senkt überraschend den Leitzins auf 3,25 von bislang 3,5 Prozent. Konjunkturdaten für das Land, die kurz vorher veröffentlicht wurden, waren sehr schwach ausgefallen.
Die Bank von Kanada senkt die Zinsen auf 0,75 Prozent. Damit beendete sie den längsten Zeitraum mit unveränderten Zinsen seit 1950 - seit September 2010 hatte der Schlüsselzins bei einem Prozent gelegen.
Die Europäische Zentralbank (EZB) kündigt eines der bislang größten Anleihe-Kaufprogramme aller Zeiten an. Insgesamt wollen die Währungshüter Staatsbonds sowie andere Wertpapiere im Volumen von 1,14 Billionen Euro erwerben. Mit den Käufen soll im März begonnen werden.
Pakistans Zentralbank senkt den Leitzins auf 8,5 von bislang 9,5 Prozent. Sie begründete dies mit einem schwächeren Inflationsdruck im Zuge der weltweit sinkenden Ölpreise.
Die Zentralbank von Singapur (MAS) lockert ihre Geldpolitik, um die niedrige Inflation anzuheizen. Sie kündigt an, den Kursanstieg des Singapur-Dollar gegen einen Korb ausländischer Währungsmittel einzudämmen. Die Inflationserwartungen hätten sich seit Oktober 2014 erheblich verändert, begründeten die Notenbanker des Stadtstaats den Schritt.
Die albanische Notenbank setzt den Schlüsselzins herab auf das Rekordtief von zwei Prozent. Im vergangenen Jahr hatte sie die Zinsen bereits drei Mal gesenkt, zuletzt im November.
Russlands Notenbank kappt den Schlüsselzins für die Versorgung der Banken mit Geld auf 15 von 17 Prozent. Das ist eine scharfe Kehrtwende, da die Notenbank 2014 die Zinszügel erst kräftig angezogen hatte. Die westlichen Sanktionen wegen des Ukraine-Konflikts und der Ölpreisverfall haben eine Kapitalflucht aus Russland ausgelöst und den Rubel auf Talfahrt geschickt.
Die australische Zentralbank RBA senkt den Leitzins auf ein Rekordtief. Der Schlüsselzins liegt damit nun bei 2,25 Prozent. Mit dem Schritt wollen die Währungshüter unter anderem die Konjunktur ankurbeln.
Rumäniens Zentralbank senkt in zwei Schritten den Leitzins um insgesamt 0,5 Punkte auf ein Rekordtief von 2,25 Prozent.
Die dänische Zentralbank setzt vier Mal innerhalb weniger als drei Wochen ihre Leitzinsen herab. Sie interveniert zudem regelmäßig am Devisenmarkt, um die Koppelung der Krone an den Euro zu verteidigen.
Schwedens Zentralbank senkt ihren Leitzins für Wertpapier-Rückkaufgeschäfte mit den Geschäftsbanken - den sogenannten Repo-Satz - auf minus 0,1 Prozent von zuvor null Prozent. Zugleich kündigt sie an, für zehn Milliarden Kronen Staatsanleihen zu kaufen.
Die Zentralbank von Indonesien setzt überraschend die Zinsen um 0,25 Punkte auf 7,5 Prozent herab. Es ist die erste Senkung seit drei Jahren. Volkswirte hatten dies nicht erwartet.
Die Notenbank von Botsuana senkt ihren Leitzins um einen Punkt auf 6,5 Prozent. Die Konjunkturentwicklung und die Inflationsaussichten würden einen solchen Schritt ermöglichen, erklärten die Währungshüter des afrikanischen Landes.
Die Bank von Israel kappt ihren Leitzins auf 0,1 von bislang 0,25 Prozent. Es ist die erste Senkung seit sechs Monaten. Hintergrund ist unter anderem der Kampf gegen Deflationsgefahren und die Aufwertung der Landeswährung Schekel.
Die Zentralbank der Türkei senkt ihren Schlüsselzins in zwei Schritten um insgesamt 0,75 Punkte auf 7,5 Prozent. Ministerpräsident Ahmet Davutoglu forderte nach der zweiten Zinslockerung die Notenbank auf, noch größere Schritte einzuleiten, um die Wirtschaft anzukurbeln.
Die chinesische Notenbank senkt ihren Schlüsselzinssatz auf 5,35 von zuvor 5,6 Prozent. Der neue Satz sei der Entwicklung des Wirtschaftswachstums, den Preisen und der Beschäftigungslage angemessen. Die Zentralbank hatte zuvor bereits Anfang Februar angekündigt, dass die Finanzinstitute künftig nicht mehr so viel Kapital als Mindestreserve bereithalten müssen. Damit soll für mehr Liquidität im Finanzkreislauf der weltweit zweitgrößten Volkswirtschaft gesorgt und die Kreditvergabe angeschoben werden.
Die indische Notenbank setzt den Leitzins in zwei Schritten um jeweils 0,25 Punkte auf 7,5 Prozent nach unten. Die Reserve Bank of India (RSB) reagiert mit der geldpolitischen Lockerung auf zuletzt magere Konjunkturdaten zur Produktion und Kreditvergabe. Indiens Wirtschaft durchläuft derzeit eine Phase vergleichweise schwachen Wachstums.
Es gibt aber auch andere Thesen zur Ursache der tiefen Zinsen. So sehen einige Beobachter wie der ehemalige amerikanische Finanzminister die Welt in einer „säkularen Stagnation“ gefangen, also einer langen Phase geringen Wachstums. Als Ursache sieht er einen erheblichen Ersparnisüberhang. In Ländern wie China und Deutschland würde zu viel gespart und zu wenig konsumiert und investiert, weshalb die gesamtwirtschaftliche Nachfrage zu tief sei und die Ersparnisse keine attraktiven Investitionsmöglichkeiten finden. Folge: die Zinsen sinken. Nach diesem Ansatz läge der historisch niedrige Zins also gar nicht an den Notenbanken. Ich selber halte von dieser Theorie nicht so viel, leidet doch die Welt viel eher unter einem Schulden- als einem Ersparnisüberhang. Dennoch: das mit dem niedrigen Wachstum ist ein weiteres Argument für noch lange tiefe Zinsen. 4:1.
Eine Frage des Alters
Ein weiterer Aspekt ist die demografische Entwicklung. Früher war man überzeugt, dass alternde Gesellschaften eher sparen als konsumieren. Nach dem Motto: die älteren Leute haben weniger Lust auf Konsum und die größten Ausgaben im Leben eines Menschen fallen mit der Familiengründung zusammen. Empirisch gibt es an dieser These jedoch zunehmend Zweifel. Es ist nur zu natürlich, dass ältere Menschen von ihren Ersparnissen leben und diese über die Zeit abbauen. Ihre Sparquote ist also negativ. Schön lässt sich das in Japan beobachten, wo die gesamtwirtschaftliche Sparquote seit Jahren fällt. Recht parallel zum Rückgang der Erwerbsbevölkerung.
Die demografischen Daten haben das Sparen in der Welt seit 1980 sehr unterstützt. So errechnen die Analysten von Barclays, dass der Ersparnisüberhang der Babyboomer bis zu zwei Prozentpunkte des Zinsrückgangs der vergangenen drei Jahrzehnte erklärt. Dies wird sich aber nicht fortsetzen. Mit dem Eintritt ins Rentenalter beginnen die Babyboomer, ihre Ersparnisse abzubauen, während gleichzeitig die Anzahl an Erwerbstätigen zurückgeht. Mit jedem Prozentpunkt mehr Senioren im Rentenalter steigt der Zins nach dieser Analyse um 1,15 Prozentpunkte. Kapital würde Mangelware, da Ersparnisse konsumiert werden müssen. Strukturell bedeutet eine ältere Gesellschaft demnach höhere Zinsen. 4:2.
Was Investoren für die lukrativste Geldanlage halten
Das Meinungsforschungsinstitut Forsa befragt einmal jährlich im Auftrag von pro aurum die Deutschen nach ihren Anlagestrategien. Hier die Ergebnisse vom Juni 2015 - im Vergleich zu den Vorjahren. Zuerst wurden den Bürgern fünf Geldanlagen genannt, mit der Bitte, anzugeben, welche davon aus ihrer Sicht derzeit am besten als langfristige Geldanlage mit mindestens drei Jahren Laufzeit geeignet ist.
Gold platziert sich zum fünften Mal in Folge an erster Stelle, diesmal allerdings deutlicher vor Aktien, die seit 2011 Zuwächse erzielten, aber aktuell in der Anlegergunst gesunken sind: 30 Prozent der Bürger würden sich heute für Gold entscheiden, weil sie vermuten, dass diese Anlage nach mindestens drei Jahren Laufzeit im Vergleich zu den vier anderen Geldanlagen den meisten Gewinn bringt. Gold konnte somit um zwei Prozentpunkte zulegen.
Nur noch 23 Prozent halten Aktien für besonders lukrativ, wenn es um langfristige Geldanlagen geht. Im Vorjahr hatte dieser Wert mit 27 Prozent offenbar einen Gipfel erreicht.
Es folgen Fondsanteile mit zwölf Prozent. Fonds sind in der Gunst der Anleger wieder leicht gegenüber dem Vorjahr gestiegen. 2013 hatte dieser Wert mit 13 Prozent noch ein Hoch erreicht, war aber 2014 auf elf Prozent zurückgefallen.
Fest- beziehungsweise Termingeld hielten sieben Prozent der Befragten für die lukrativste langfristige Geldanlage. Seit 2011 ist diese Anlageklasse deutlich ins Hintertreffen geraten, damals glaubten noch 22 Prozent der Befragten, Termin- und Festgelder würden auf drei Jahre betrachtet den meisten Gewinn abwerfen.
Drei Prozent nannten Anleihen als aussichtsreichste Anlageklasse, im Vorjahr waren es nur zwei Prozent. Anleihen spielen somit für Privatanleger praktisch keine Rolle. Ernüchternd: Knapp jeder vierte Bürger (24 Prozent) kann nicht sagen, welche dieser Anlagen am besten geeignet wäre, um langfristig möglichst viel Gewinn zu erzielen. Die Angaben "weiß nicht" oder "keine davon" kamen bereits in den Vorjahren ähnlich häufig vor.
Inflationäre Zeiten
Gestützt wird die Analyse von Barclays durch eine Studie der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich. Diese hat sich mit einer anderen, damit zusammenhängenden Frage beschäftigt. Sind alternde Gesellschaften eher deflationär, führt also abnehmende Nachfrage zu sinkenden Preisen, oder eher inflationär? Das Ergebnis ist interessant. Die Forscher vergleichen die Relation der arbeitenden zur nicht arbeitenden Bevölkerung. Demnach hatten wir in den vergangenen Jahren auch deshalb rückläufige Inflationsraten, weil ein großer Teil der Bevölkerung erwerbstätig war. Die geburtenstarken Jahrgänge waren aktiv, die Anzahl der Rentner begann erst langsam zu steigen, während die Anzahl der Kinder deutlich zurückging. Nun steigt der relative Anteil der nicht erwerbstätigen Bevölkerung jedoch deutlich an. Diese relative Verschiebung wird, so die Erwartung der Forscher, den Preisdruck erhöhen. Höhere Inflation dürfte auch höhere Zinsen mit sich bringen. 4:3.
Oder liegt es nur einfach daran, dass die Investoren nach den Erfahrungen der Finanzkrise und den geopolitischen Risiken einfach nur „Katastrophenangst“ haben, wie es der Wirtschaftsforscher Kenneth Rogoff ausdrückt? Er schätzt, dass ein guter Teil des Zinsrückganges auf diesen Effekt zurück zu führen ist. Weicht die Angst mit der Zeit, steigen auch die Zinsen. 4:4.
Verbleibt ein letzter Gedanke: wenn alle das Gleiche erwarten, kommt das Gegenteil. Denken wir nur an die einheitliche Meinung zu Jahresbeginn, ein Verhältnis von 1:1 von Euro zu Dollar wäre nur eine Frage der Zeit. Zwischenzeitlich hat der Euro eine prächtige Rally hingelegt. Mit Blick auf die Zinsen kann das nur bedeuten: wer auf ewig tiefe Zinsen setzt, lebt gefährlich.