Ulrich „Richie“ Engler Die unglaubliche Geschichte eines Betrügers

Ulrich Engler ist der dreisteste Dieb Deutschlands: 500 Millionen Dollar zockte er in Rekordzeit bei 5.000 Anlegern ab. Was Engler, seine Helfer und seine Kunden einte: die Gier nach schnellem Reichtum. Eine Spurensuche.

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Ulrich Engler (rechts) posiert vor einer Stretch-Limousine in Florida. Vom Geld seiner Kunden führte er ein Leben im Luxus. Quelle: Handelsblatt Online

Der schwarze Koffer ist alles, was Ulrich Engler bleibt. Ein paar Jogginganzüge, ein paar T-Shirts, ein Dutzend loser Blätter. Dabei hatte Engler einmal Hunderte Millionen auf der Bank, Tausende Kunstwerke in einer Lagerhalle, Luxuskarossen vor seiner Villa. Jetzt dreht der Koffer einsam Runde um Runde auf dem Gepäckband. Denn die Beamten des Landeskriminalamts haben es eilig, legen ihm direkt am Gate Handschellen an, führen ihn durch die Flughafenhallen.

Es ist Sonntag, der 19. August 2012, 13.50 Uhr in Frankfurt am Main. Zwei US-Marschalls haben Engler über den Atlantik gebracht. Condor Flug 7083 aus Las Vegas. Amerika hat Engler abgeschoben. Diesen groß gewachsenen Mann, dessen wichtigstes Kapital über Jahre hinweg sein Auftreten war. Die LKA-Ermittler führen Engler in einen Raum der Bundespolizei, grüne Polster unter Neonlicht. Seine blonden Haare sind rasiert bis auf den Schädel, statt Maßanzug trägt er Jeans und T-Shirt. Er kauert auf dem Stuhl wie ein kleiner Junge, den man beim Stehlen erwischt hat.

Drei Jahre lang glänzte Engler so hell, dass er um sich herum alle blendete. Er versprach seinen Anlegern Rendite ohne Risiko, gaukelte ihnen vor, er könne mit einem Computerprogramm die Märkte überlisten. Durch Day-Trading - Käufe und Verkäufe im Minutentakt - Gewinne von sechs Prozent erzielen. Nicht im Jahr, sondern im Monat. Verstehen konnte das niemand, aber mehr Geld, das wollten sie alle: Engler, seine Vermittler, die Kunden.

Vom Geld, das ihm die Menschen überwiesen, machte sich Engler ein schönes Leben. Leistete sich nur das Beste. Einen kleinen Teil zahlte er den Anlegern jeden Monat zurück - insgesamt nur 3,8 Millionen - als angeblichen Gewinn. Solange immer neue Kunden kamen, funktionierte das System. Die Anleger dachten, Engler sei ein Genie, folgten ihm, weil er vorlebte, was sie ersehnten: Reichtum, Status, Unbeschwertheit. Kein deutscher Anlagebetrüger war je so schnell beim Geld einsammeln wie Engler.

Auf 500 Millionen Dollar schätzen US-Wirtschaftsprüfer den Schaden. Deutsche Ermittler fanden bisher Belege für 180 Millionen Euro, die Engler bei Kunden eingesammelt hat. Drei Jahre, von Januar 2005 bis September 2007, brauchte er dazu. Ulrich Engler war der dreisteste Dieb Deutschlands.

„Die Gier hat mein Gehirn gefressen“

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Der pensionierte Ingenieur Lothar Ritter hat 600.000 Dollar an Engler verloren. Seinen richtigen Namen will er nicht in der Zeitung lesen - er schämt sich für seine Dummheit. „Die Gier hat mein Gehirn gefressen“, sagt der 74-Jährige heute. „Ich habe nicht verstanden, was Engler da macht, aber ich wollte das Geld. Ich wollte mehr.“ Ritter ist nur einer von über 5000 Anlegern, die Engler vertrauten. Dabei waren Englers Kunden oft besser gebildet als er, viele mit akademischen Titeln bestückt - vielleicht sogar klüger.

Warum fielen sie auf ihn rein? Vielleicht, weil Engler keiner dieser aalglatten Finanzhaie war. Nicht braun gegerbt, als läge er nur am Strand. Nicht durchtrainiert, sondern leicht untersetzt, die Hose immer einen Handbreit unter der Hüfte hängend. Seine Genialität lag darin, als Typ durchschnittlich zu sein. Aber vor allem kapierte Engler: Dass Intelligenz nicht vor Gier schützt. Englers Geschichte ist daher auch ein Spiegel unserer Gesellschaft, in der die meisten glauben: Wer mehr hat, ist mehr. Ein Sinnbild für den um sich greifenden Wahn, dass sich Geld aus dem Nichts schaffen und grenzenlos vermehren lässt. Durch Finanzgeschäfte, die selbst Experten nicht mehr durchschauen, aber bei denen trotzdem jeder mitmischen will.

Ulrich Felix Anton Engler wurde am 28. März 1961 Andelfingen geboren, einem Kaff auf der schwäbischen Alb. Sohn von Otto und Antonie, eines Straßenbauarbeiters und einer Hausfrau. Der Älteste von drei Geschwistern, der Junge mit der Rechtschreibschwäche, ein starker Rechtsaußen im SV Andelfingen. Einer, dem die anderen Jungs hinterherrannten, der sie zum Rauchen verführen konnte - oder dazu, es zu lassen. Groß, strohblond, quirlig. Und reden konnte er - reden.

Ulrich Engler sieht nicht aus wie ein klassischer Finanzhai - vertrauten ihm die Menschen deshalb? Quelle: Handelsblatt Online

„Er sagte, wo's lang ging“, erzählt ein ehemaliger Nachbar. „Er erklärte uns die Welt, und wir folgten fasziniert.“ Und dennoch - Ulli, wie sie ihn zu Hause nennen, brachte ansonsten nicht viel zustande. Er machte einen durchschnittlichen Hauptschulabschluss, verpflichtete sich bei der Bundeswehr, wo er eine Ausbildung zum Bürokaufmann begann. Aber Engler befahl lieber, als Befehle zu empfangen. Nach zwei Jahren gab er ohne Abschluss auf. Er zog nach Ulm, verkaufte für die BHW Bausparverträge. Tingelte von Vertrieb zu Vertrieb.

Einer seiner Chefs war Gerhard Reeg. Dessen Firma verkaufte Pressedossiers an Unternehmen. Und keiner verkaufte mehr als Engler. „Wir hatten eine Vertriebstagung. Engler ging nach vorne. Er trug einen Zweireiher, aber nicht geschlossen, wie man das machte, sondern offen - betont lässig“, erinnert sich Reeg. Engler habe den anderen erzählt, wie gut er verkaufe, wie einfach das alles sei. Reeg: „Er war ein absoluter Selbstdarsteller.“

Engler waren die Honorare aus dem Vertrieb nicht genug. Er wollte mehr, wollte reich sein. Mit Partnern kaufte er ein Haus, verkaufte die einzelnen Wohnungen. Vom Erlös kaufte er einen BMW. 750i, der größte damals. Er fuhr in die Heimat und zu seinem alten Chef. „Engler parkte so, dass ich das Auto sah. Mitten ins Halteverbot“, sagt Reeg. „Er prahlte, er verdiene jetzt richtig viel Geld.“

Nehme Geld, biete Fantasie

Später habe er gehört, dass Englers Firma pleiteging. Es muss damals gewesen sein, Anfang der 90er-Jahre, als Engler klar wurde, dass sein Traum vom Reichtum für ihn mit ehrlicher Arbeit nicht zu schaffen war. Er begann eine Karriere als Krimineller. 1993 bekam er eine Bewährungsstrafe von drei Monaten wegen Kreditkartenbetrugs, zwei Jahre später 3600 Mark Geldstrafe aus dem gleichen Grund, 1996 linkte er 14 Menschen mit falschen Verträgen: zehn Monate auf Bewährung.

1997 setzte sich Engler in die USA ab. Er ließ sich in Florida nieder, meldete verschiedene Unternehmen an. Über Zeitungsanzeigen in Deutschland suchte er nach Komplizen. Er bot wenig Arbeit und großen Gewinn.

Ein Gerichtsurteil erzählt, wie Englers Abzocke damals lief: Engler mimte den erfolgreichen Geschäftsmann in Amerika, sein Komplize den deutschen Generalrepräsentanten. Sie verkauften wertlose Investments in Telefonzellen, Wandelanleihen bereits gelöschter Firmen und Porno-Webseiten. Engler dachte sich einen Fantasiestaat in der Karibik aus, fälschte sogar eine Banklizenz. Den selbst gedruckten Anteilschein an der „Dominion of Melchizedek“ verkaufte er für 146.890 Euro.

Was Verkäufer in der Finanzbranche verdienen

Das Geld steckte er einfach ein. Die Masche zog. Ende der 90er-Jahre herrschte Goldgräberstimmung in der Finanzwelt. Millionen Menschen investierten in Aktien, Anleihen, Beteiligungen. Jeder wollte dabei sein beim großen Roulettespiel. All-in. Egal worein, egal an wen. Noch einmal erhöhte der Berufsbetrüger Engler den Einsatz. Ende 2004 kaufte er ein Computerprogramm, mit dem sich Aktien handeln ließen. Vielleicht wollte er es anfangs wirklich benutzen - aber dazu kam es nie.

Wieder schaltete Engler Zeitungsanzeigen in Deutschland, wieder suchte er nach Vermittlern, die seine Botschaft unter die Menschen brachten: „Day-Trading. Sechs Prozent Rendite pro Monat.“ Johannes Huber antwortete auf Englers Annonce. Rein aus Interesse, wie er heute sagt: „Engler rief mich damals, im Herbst 2004, jeden Tag an. Er erzählte mir vom Day-Trading und von sich. Ich fand das alles spannend.“

Engler redete wieder. Er hatte sich einen neuen Lebenslauf verpasst - einen, der zu seinem jetzigen Auftritt passte: Er sei im Schwäbischen aufgewachsen, mit 18 Jahren nach Amerika abgehauen, samt Freundin. Jahrelang habe er sich mit Hilfsarbeiten durchgeschlagen: Autos poliert, Rasen gemäht, Teller gewaschen. Über einen Kontakt sei er zur Chase Manhattan Bank gekommen. An seinem ersten Arbeitstag habe er vor dem Bankturm gestanden, habe die Hand seiner Freundin gedrückt und gesagt: „Heute fange ich im vierten Stock an, aber irgendwann will ich ganz oben arbeiten.“

Die Mär vom amerikanischen Traum

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Immer weiter sei er aufgestiegen, bis er schließlich zehn Jahre lang als Chefhändler für das internationale Derivategeschäft und die Bankanleihen verantwortlich gewesen sei. Nach 21 Jahren habe er die Bank verlassen. Es war die Geschichte vom amerikanischen Traum. Seine Vermittler sogen Englers Legende auf und spuckten sie bei den Kunden wieder aus. Alle wollten sie reich werden. Engler, die Vermittler, die Kunden. Und Engler fütterte ihre Wünsche mit seiner Fantasie.

Er war jetzt Ulrich Engler der Börsenspezialist, das Finanzgenie, der Reichmacher. Liest man sich heute die Tausenden Seiten Akten durch, die Englers Fall bei Anwälten, Insolvenzverwaltern, dem LKA und der Staatsanwaltschaft angehäuft hat, stellt sich unweigerlich die Frage, wie so etwas sein kann. Wie konnte Engler so viele Menschen reinlegen? Wieso glaubten so viele seine Mär von sechs Prozent Gewinn im Monat?

„Englers Plan war simpel - er hatte kaum Fehler“, sagt Andreas Warkentin, Kapitalrechtsexperte der Frankfurter Anwaltskanzlei Winheller, die Hunderte geschädigte Anleger vertritt. „Die Broschüren waren überzeugend, sein Auftritt war überzeugend, und das Geld, das er Anlegern monatlich ausbezahlte, war es erst recht.“ Seine Firma nannte Engler PCO - Private Commercial Office. Ein allgegenwärtiger Name in Florida, da Makler damit zu vermietenden Büroraum anpriesen.

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BASF Quelle: dpa
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Engler richtete sich ein Konto bei der Suntrust Bank ein, einer amerikanischen Privatkundenbank. Nichts an seinem System war auffällig. Engler warb seine ersten Kunden durch Anzeigen im Handelsblatt, der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ und der „Welt“. Besuche waren kaum nötig. 72 Prozent Gewinn pro Jahr knipsten den Kunden ihren Verstand aus. „Ich habe nur die Anzeigen geschaltet“, sagt Englers Ur-Vermittler Huber heute. „Hätt' ich gewusst, dass alles ein Betrug ist, wäre ich nie eingestiegen.“

Engler fand weitere Vermittler. Immer mehr Kunden kamen jetzt, und von deren frischem Geld bezahlte Engler die Zinsen der bestehenden Kunden. Im März 2005 floss das erste Geld. Das Schneeballsystem Engler kam ins Rollen.

Huber wird heute von den Ermittlern des Landeskriminalamts als Europa-Chef im System Engler geführt. Neben ihm sind noch drei weitere Topvermittler wegen Betrugs angeklagt: Roland J. Renner aus Bruchsal, Gabriele Balsiger aus der Schweiz, Wilhelm Huber aus Wangen im Allgäu. Engler nannte sie die „Fantastic Four“ - die Fantastischen Vier. Keiner außer Huber wollte mit dem Handelsblatt sprechen, einige drohten sogar mit rechtlichen Schritten, sollten sie im Zusammenhang mit Engler genannt werden. Aber Rechnungen und Passagierlisten beweisen, dass Engler im Oktober 2006 sogar einen Lear-Jet mietete, um seine Fantastic Four nach Las Vegas zu fliegen: Spielen, Schlemmen und Schlafen - alles auf Englers Kosten.

Unter den Fantastic Four arbeitete ein Heer von Vermittlern - am Ende mehr als 120. Darunter Karola und Jürgen Kuprath. Über 1000 Kunden hatten allein die beiden mit ihren Helfershelfern für Engler geworben. Sie waren seine besten Botschafter. „Wir waren 2006 sogar in Florida, haben Engler getroffen und alles überprüft“, sagen die Kupraths. „Ob es das Bankkonto gibt, ob die Notarin existiert. Und er hat uns gezeigt, was er am Vortag gehandelt hat, damit wir verstehen, wie das Day-Trading funktioniert.“

Wie gleichgeschaltete Papageien

Haben Sie es verstanden? „Ja“, sagt Jürgen Kuprath, ehemaliges Vorstandsmitglied der LBS Bausparkasse, über 30 Jahre im Immobiliengeschäft. „Engler hat mir erklärt, dass er vorbörslich handelt, Aktien kauft, bevor die Börse aufmacht. Dass er beim ersten Kursanstieg verkauft, auch wenn die Aktie weiter steigt. Eine konservative Trading-Strategie nannte er das.“ Und Sie haben das alles kapiert? „Ich war ja selbst lange Zeit im Bankgeschäft“, sagt Jürgen Kuprath. „Ich dachte, wenn es über eine Bank läuft, ist das Geschäft sauber. Ich habe ja das Konto mit den Namen und Kontoständen der Anleger gesehen.“

„Engler wirkte immer so vertrauenswürdig“, sagt Karola Kuprath. „Aus heutiger Sicht ist es einfach zu sagen, man hätte es wissen müssen“, sagt Jürgen Kuprath. „Wie denn?“ Keiner der Vermittler verstand so richtig, was Engler ihnen erzählte. Seine Sätze klangen schlüssig, aber die Vermittler waren ja keine Börsenexperten. Und trotzdem wiederholten sie bei den Kunden Englers Worte wie gleichgeschaltete Papageien, plapperten seine Lügen nach. Und warum sollten die Vermittler nachhaken? Warum sollten sie kaputt machen, woran sie alle so gut verdienten? Warum sollten sie sich fragen, wie ein System jeden Monat sechs Prozent Gewinn für die Kunden abwerfen konnte, üppige Provisionen für die Vermittler und Luxuskarossen für Engler?

Auch Axel Schulz hoffte auf die schnelle Geldvermehrung. Der ehemalige Boxprofi legte insgesamt 262.000 Euro bei Engler an - und verlor alles. Quelle: Handelsblatt Online

Ab Ende 2006 flossen allein bei den Kupraths Provisionen aufs Konto so hoch, dass die Gedanken stillstanden. Erst 30.000, dann 50.000, irgendwann 8. 000 Dollar im Monat. 80.000 gute Gründe für Englers Ehrlichkeit. Wer Engler in Florida besuchte, den führte er in die besten Restaurants. Ins Roy's, wo man ihn zur Begrüßung umarmte. Er ließ die Namen seiner Gäste mit Schokolade auf Teller schreiben, ließ Garnelen und Champagner servieren. Er führte seine Vertrauten durch seine Villa - über den Marmorboden, am Pool entlang zur Garage, wo der Bentley stand und manchmal ein Rolls Royce.

Im November 2006 ließ der Multimillionär seine 60 besten Vermittler nach Florida einfliegen. Es erwarteten sie drei Tage Show nach Engler'scher Art: Schlafen im besten Hotel, Abendessen für Tausende Dollar und ein Geschenk im einzigen Format, das Engler noch kannte: XXL. Den besten Vertretern spendierte er einen Mercedes S600, das protzigste Modell. Die Gegenleistung der Vermittler: totale Unterwerfung.

Als einer von ihnen bei Englers Vortrag auf die Toilette wollte, raunzte der ihn zurecht: Er solle es sich gefälligst verkneifen. Engler stand jetzt im Mittelpunkt. Er führte seine angeblichen Trading-Ergebnisse vom Vortag vor. Tat, als sei er ein Mix aus Gordon Gekko und Warren Buffet. Der Einzige mit Verstand für den Markt. Zeigte Schaubilder und Kurskurven. Es gab nur einen Haken: Engler hatte gar nicht gehandelt. Genau genommen handelte er nie.

Wer zweifelt, fliegt raus

Papiere von erfolgreichen Unternehmen müssen nicht teuer sein. Das aktuelle Ranking der Top-500-US-Konzerne zeigt, wo dank Wachstum und Cash-Flow noch Gewinnpotenzial steckt.

Richard Kühn, ein Finanzberater aus Kirchheim Teck, saß bei Englers Show im Saal. Er prägte sich alles genau ein. Wie Engler oben auf dem Podium stand. Ein Prediger im feinsten Zwirn. Wie er mit zum Himmel gereckten Händen seine Weisheiten ins Publikum feuerte, mit Superlativen um sich schmiss - und beim Erklären seiner fantastischen Geldmehrungsmaschine seltsam unkonkret blieb.

Heute sagt Kühn: „Nach drei Stunden war klar: Der Typ ist ein Blender.“ Zurück zu Hause schrieb Kühn an Engler, bat im Namen seiner Kunden um Nachweise: Englers Börsenzulassung, Zeugnisse der Chase Manhattan Bank. Kühn beschwerte sich, Engler hätte doch versprochen, „live“ zu traden. Damit alle sehen könnten, wie er das Geld im Minutentakt vermehrt. Stattdessen wieder nur die vermeintlichen Wundertaten vom Vortag.

Vier Tage später bekam Kühn Englers Antwort: die fristlose Kündigung. Engler zahlte ihn und seine Kunden aus - auf Euro und Cent genau. Betrachtet man es aus heutiger Sicht, sind Kühn und seine Kunden die einzigen Gewinner im System Engler. Die anderen waren das Zahlvieh. Ab April 2006 hatte Engler schon so viele Menschen reingelegt, dass er sein Schneeballsystem nicht mehr selbst verwalten konnte. Engler stellte eine deutsche Auswanderin ein. Sie nannte ihn Richie - Englers Wahlname, weil die Amerikaner Ulrich nicht aussprechen konnten.

Zwei Jahre später wurde sie vom LKA vernommen, als wichtige Zeugin. Ihr Credo: „Ich habe nur die Überweisungen gemacht und Englers Briefe aus dem Postfach geholt.“ Erst auf Nachfrage der Ermittler gestand sie, dass sie Englers Betrug eigenhändig das offizielle Siegel verlieh. Denn ein wichtiger Grund für viele Kunden, Engler zu vertrauen, war die sogenannte „Promisory Note“. Eine notarielle Urkunde, dass Engler die volle Haftung im Falle eines Verlusts übernehme.

Es war das All-inclusive-Sorglospaket für die Kunden. Auf der Urkunde prangte immer ein Notarstempel. Englers Gehilfin sagte dem LKA, ab Ende 2006 habe sie die Dokumente selbst gestempelt: „Richie hat mir den Stempel gegeben. Ich nahm an, für die Notarin waren es einfach zu viele Dokumente.“

Während Engler die Millionen einsammelte und seinen Betrug per Stempel als rechtschaffen deklarierte, stand die Finanzaufsicht Bafin daneben und schaute zu. Zwar bemängelte sie, dass Englers Geldsammeltrupp eine Lizenz für Dritteinlagengeschäfte bräuchte, aber Taten folgten nicht. Auch nicht, als die österreichischen Aufseher Ende 2006 vor Geschäften mit Engler warnten. Englers Schneeballsystem hatte jetzt zu viel Fahrt, um sich durch Kleinigkeiten stoppen zu lassen - Gerichtsurteile zum Beispiel.

2006 erließ das Landgericht Hamburg Haftbefehl gegen ihn, wegen früherer Betrügereien. Die Kunden aus Englers Vergangenheit standen vor dem Nichts, während ihm die neuen weiter die Tür einrannten. Ende 2006 reichte die JP Morgan Chase Klage gegen ihn ein - die US-Bank störte sich daran, dass Engler sich als ihr ehemaliger Chefhändler ausgab, obwohl er niemals für sie tätig war. Als sich die Klage im System Engler herumsprach, schrieb der Schneeball-Artist an seine Kunden: „Wenn die JP Morgan sich ihrer Sache doch so sicher wäre, dann würden diese nicht den Schadensfall auf 100.000 Dollar festlegen, sondern auf das 100-Fache. Auf 100.000 Dollar würde ich meinen Nachbarn verklagen, wenn sein Hund in meinen Garten pupsen würde.“

Die Jagd ist eröffnet

Das Erstaunlichste an diesem Brief: Er wirkte. 2007 floss mehr Geld auf Englers Konten als je zuvor. In manchem Monat über zwanzig Millionen Dollar. Jetzt, da sein Büro mit Geld der Kunden überquoll, suchte Engler nach einer Hintertür. Er begann mit den Vorbereitungen für seine Flucht. Engler muss gespürt haben, dass seine Stunde geschlagen hat. Schon seit Monaten überwachte das LKA Stuttgart mehrere seiner Vermittler, beschaffte mit verdeckten Fahndern Indizien. Während Engler sich um einen ungarischen Diplomatenpass bemühte, schlugen die Beamten in Deutschland zu.

Am 31. Juli 2007 durchsuchten sie zeitgleich die Büros und Häuser von einem Dutzend seiner Vermittler. Bevor Engler am 1. August 2007 das letzte Mal aus dem Büro ging, sagte er zu seiner Assistentin: „Meine Vergangenheit holt mich ein. Bald wirst du Antworten bekommen - wie alle anderen auch.“ Wochenlang saß sie allein im Büro in Cape Coral und beobachtete aus der Ferne das Chaos in Deutschland. Die Durchsuchungen sprachen sich bei den Kunden herum wie die Nachricht von einer ansteckenden Krankheit. Es herrschte Panik, alle wollten ihr Geld zurück. Die Fassade war nicht mehr zu halten. Am 22. September 2007 legte Englers Assistentin die Arbeit nieder und schloss das Büro.

Das Letzte, was sie von Engler sah, war der ungarische Diplomatenpass - Roland Renner, einer der Fantastic Four, hätte ihn nach Florida gebracht. Fünf Jahre war Engler auf der Flucht. Quer durch Arizona, Kalifornien, Nevada. Immer mit dabei: seine Partnerin Bianca B. Sie wechselten die Autos und die Städte. Mieteten sich mal hier und mal dort ein. Kaum noch traute sich Engler in teure Hotels, lieber versteckte er sich in möblierten Wohnungen. Er benutzte falsche Papiere, nannte sich Joseph Miller oder Joseph Walter. Engler hatte mehr Geld ergaunert, als er jemals ausgeben würde, doch er konnte den Luxus nicht mehr genießen. Den Champagner, den Hummer.

Alles, was Engler in seinem Namen gehörte, wurde von den Behörden konfisziert: seine Villa, seine Immobilien, sein Bentley. Englers Anwalt Steffen Lindberg sagt über die Jahre auf der Flucht: „Er sagt, es war keine schöne Zeit für ihn. Er fühlte sich ständig beobachtet, hatte ständig Angst, entdeckt zu werden.“ Am 11. Februar 2012 bemerkte die Highway Patrol in Nevada ein Fahrzeug, das Schlangenlinien fuhr. Sie hielten es an, nahmen den Fahrer mit aufs Revier. Der Mann, der sich als Joseph Miller auswies, musste seine Fingerkuppen auf einen Scanner legen und zwei Ampullen Blut abgeben. Dann ließen die Cops ihn wieder laufen.

Ein Opfer seiner Gier?

Wochenlang ratterten seine Fingerabdrücke durch Computerdatenbanken, bis es endlich einen Treffer gab: Der Betrunkene hieß nicht Joseph Miller, sondern Ulrich Engler. In Deutschland mehrfach per Haftbefehl gesucht. Die Beamten zogen ihr Netz schnell zu. Vier Monate später fanden sie Engler wieder. Ausgerechnet in Las Vegas. Zwölf US-Marshalls jagten ihn in ihren Autos über den Highway, drängten ihn ab. Mit gezogenen Pistolen rannten sie auf sein Auto zu, zogen Engler vom Sitz.

Während er in Handschellen mit dem Gesicht zum Boden auf dem Highway lag, fanden die Marshalls Hunderttausende von Dollar im Kofferraum und einen Schlüssel für eine Lagerhalle. Noch mehr Geld, Schmuck und Tausende von Gemälden hatte Engler dort gehortet, darunter ein Bild des russischen Expressionisten Wasily Kandinsky. Allein dies könnte mehr als eine Million Dollar wert sein.

Was bleibt von Engler? Vor allem Opfer. „Ich habe geweint“, sagt Lothar Ritter. Der Mann, der Engler 600.000 Dollar anvertraute, hat seinen Lebenstraum verloren. Ein Segelboot wollte er sich kaufen - hatte Jahrzehnte dafür gespart. Seine Frau sagt: „Er hat durch Engler den Spaß am Leben verloren.“ Ritter sagt, durch Engler habe er auch etwas gelernt: „Es ist egal, ob ich 600.000 Dollar habe, 800.000 oder eine Million. Ich kann es nicht fressen.“

Der ehemalige Staatsanwalt und heutige Wirtschaftsstrafrechtler Volker Hoffmann hat viele Schneeballsysteme erlebt. Sein Eindruck: Wer kriminell werden will, ist mit dieser Masche gut beraten. Es ist keine Gewalt nötig, die Opfer bringen ihr Geld fast von selbst. Dadurch haben die Betrüger oft Jahre Zeit, ihren Ausstieg zu planen. Hoffmann: „Der tatsächlich entstandene Verlust wird bei einem Schneeballsystem typischerweise bis zum Zusammenbruch verschleiert.“

Ulrich Engler ist zurück in Deutschland. Auf dem Boden der Realität aufgeschlagen, nach einem schier unglaublichen Höhenflug. Sein Koffer wird von der Bundespolizei in die JVA Mannheim gebracht. Ein Dutzend Blätter mit Belegen für die Polizei sind darin, Jogginganzüge, und sein Kulturbeutel. Mehr ist ihm nicht geblieben. „Ich bin froh, dass es vorbei ist“, sagt Engler noch am Flughafen zu seinem Anwalt Steffen Lindberg. „Endlich bin ich wieder in Deutschland.“

Aber hier wartet auch nichts Gutes auf ihn. 1295 Fälle hat sich die Staatsanwaltschaft exemplarisch herausgegriffen, für die sie jahrelang Beweise gesammelt hat. Die Anklage gegen Engler wird lauten: Schwerer bandenmäßiger Betrug. 15 Jahre könnte er dafür hinter Gitter kommen. Engler ist voll geständig. Die Abende verbringt er in seiner Zelle im Mannheimer Knast, macht sich Notizen aus 19 Jahren Lug und Trug. Tagsüber sitzt er beim LKA. Es sind lange, zähe Verhöre. Und Engler redet wieder. Über ein halbes Leben als Betrüger.

Es ist vielleicht seine letzte Geschichte. Die von einem der größten Finanzverbrechen Deutschlands. 5000 Anleger, 500 Millionen Dollar Schaden. Und auf die Frage, wie das alles kommen konnte, warum er all diesen Menschen so viel Leid zugefügt hat, kommt diese Antwort: „Herr Engler ist damals von seinem Erfolg überrollt worden, und irgendwann war es zu spät, um auszusteigen“, sagt sein Anwalt.

So sieht Engler sein Ende. Nach all den Versprechungen, die er machte, all dem Luxus, in dem er lebte. Jetzt, in seiner Gefängniszelle, will Engler nicht mehr sein als seine Kunden, seine Komplizen: ein Opfer seiner eigenen Gier.

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