Verkehrte (Finanz-)Welt
Aktienanalyse: Neuer Rechnungslegungsstandard IFRS 15 Quelle: imago images

Warum Anleger bei der Aktienanalyse wachsam sein müssen

Der neue Rechnungslegungsstandard IFRS 15 soll zwar für Einheitlichkeit und Transparenz sorgen, birgt aber auch Hindernisse. Beispiele zeigen: Bilanzen richtig zu lesen wird nicht unbedingt leichter.

  • Teilen per:
  • Teilen per:

In den nächsten Tagen werden wir die ersten Geschäftsberichte der deutschen Unternehmen für 2018 sehen und damit auch die ersten ganzjährigen Bilanzen mit dem Rechnungslegungsstandard IFRS 15. Dieser sorgt dafür, dass Umsätze anders gebucht werden. Im Kern geht es darum, dass von nun an nur noch Umsatz verbucht wird (sogenannte Umsatzrealisierung), wenn auch etwas für den Kunden getan wird – und zwar zeitlich (wann erfolgt die Leistung?) sowie inhaltlich (welche Leistung bekommt der Kunde).

Im Ergebnis wird in Zukunft weniger geglättet. Wurde der Umsatz bisher, beispielsweise bei längerfristigen Verträgen, mehr oder weniger gleichmäßig auf Basis von Kostenschätzungen über einen längeren Zeitraum verteilt, wird er nun punktueller bei konkreter Leistungserbringung realisiert. Unterschiede gibt es auch bei gebündelten Produkten, wie beispielsweise beim Handykauf über einen zugehörigen Mobilfunkvertrag. Hier wird nun klar in zwei unterschiedliche Geschäfte unterteilt, auch wenn der Kunde eine gleichbleibende monatliche Gebühr für das Gesamtpaket zahlt.

An der Frage nach dem Mehrwert dieser Regelung für die Bilanzleser scheiden sich allerdings die Geister. Die eine Gruppe der Investoren ist froh, dass sie nun eine klarere ökonomische Zuordnung erkennt. Die andere Gruppe bemängelt die schlechtere Planbarkeit der zukünftigen Umsätze.

Matthias Meitner, CFA, ist Leiter des Expertennetzwerks „Equity Valuation and Analysis“ der CFA Society Germany Quelle: Presse

Die unterschätzte Sachverhaltsgestaltung

Noch gravierender als dieses gestalterische Manko ist aber, dass der Standard IFRS 15, entgegen der angekündigten Einschränkung von Spielräumen für die Unternehmen, eine Menge Einfallstore für die Steuerung von Umsatzbuchungen bietet. Denn das Gremium, welches die Rechnungslegungsstandards festlegt, das International Accounting Standard Board (IASB), hat es zwar geschafft, die Buchungsflexibilität zu verringern, dabei allerdings wohl übersehen, dass sie über Spielraum durch sogenannte Sachverhaltsgestaltungen ganz einfach wieder zurückgewonnen werden kann.

Bei Sachverhaltsgestaltungen wird die ökonomische Realität verändert, um einen bestimmten Rechnungslegungseffekt zu erzielen. Dazu zählt zum Beispiel, einzelne Geschäftsvorfälle zeitlich zu verlagern. Sie gelten zwar typischerweise als hohe Hürde – Motto: es muss schon viel passieren, bis Unternehmen das operative Geschäft anpassen, nur um eine Bilanzwirkung zu erzielen – bei der Umsatzrealisierung sind die Strapazen allerdings – wie nachfolgend gezeigt – meist überschaubar.

Und wenn die Positionierung nicht so kompliziert ist, dann beweisen die Finanzabteilungen der Unternehmen gerne mal ihre ganze Kreativität. Die folgenden Beispielliste zeigt, was aktuell in Unternehmen diskutiert beziehungsweise auch schon umgesetzt worden ist. Bewusst ist die folgende Aufzählung anonymisiert und auch die Branche teilweise verfälscht, denn die meisten Erkenntnisse sind in der Öffentlichkeit im Detail noch nicht bekannt:

- Eine Fitnesskette hat in Neuverträge komplexe quartalsweise Auswertungs-Leistungen für die Kunden aufgenommen. Dadurch sollte erreicht werden, dass auch gegen Vertragsende – wo Kunden üblicherweise kaum noch ins Fitness-Studio kommen – noch eine Leistung am Kunden erfolgt und so die Umsatzbuchung gleichmäßiger über die Zeit vorgenommen werden kann. Ansonsten hätte der Umsatz tendenziell frühzeitig, also in der Anfangsphase der Kundenbeziehung, gebucht werden müssen (was aber nicht in die Anreizprogramme des Managements gepasst hat).

- Die gleiche Fitnesskette hat die Margen auf die Fitnessleistungen und den im Vertrag inbegriffenen Getränkeverzehr durch interne Umsatzaufteilung derart verteilt, dass sie besonders erfolgreich im Kerngeschäft erscheint (und weniger erfolgreich im Getränke-Support). Dies – so die Überlegung – wird die Investoren am ehesten zu einer hohen Unternehmensbewertung verleiten.

Vorsicht, Aufmerksamkeit und Demut bei der Aktienanalyse

- Einen sehr kreativen Weg der Sachverhaltsgestaltung hat ein Maschinenbau-Unternehmen gefunden, um die Frage des Umsatztimings nach Bedarf beantworten zu können. Das Unternehmen hat die Wartungskosten in den langfristigen Serviceverträgen erhöht und die Wartungsnotwendigkeit von der Ferndiagnose seines digital angebundenen Control-Centers abhängig gemacht. Das klingt für die Kunden erst einmal sehr vernünftig. Zugleich erlaubt es aber dem Maschinenbauer, die Umsatzrealisierung nach Belieben zu steuern. Denn das Ergebnis der Fernanalyse kann der Kunde normalerweise nicht sehen. Wenn dringend Umsatz benötigt wird, dann wird frühzeitig gewartet. Wenn nicht, dann eben erst später.

- Ein Unternehmen der Telekommunikationsbranche hat aktiv die Charakteristika seiner Geschäftsvorfälle getarnt und ihre Einzigartigkeit herausgestellt. Ziel dabei ist, dass das Unternehmen auch in Zukunft die Deutungshoheit über Umsatztiming (wann wird realisiert) und -verteilung (bei welchen Produkten wird wieviel realisiert) behalten kann. Denn umso vergleichbarer und standardisierter Geschäftsvorfälle sind, umso eher wird ein Wirtschaftsprüfer dem Unternehmen auf Basis von Erfahrungswerten vorschreiben, wie Umsätze zu behandeln sind.

- Unternehmen quer durch alle Branchen haben eine Technik wieder verstärkt hervorgeholt, die eigentlich nach dem Enron-Skandal im Jahr 2001 auf ewig in der Mottenkiste der Bilanzierung verschwinden sollte (wobei das nie vollständig gelungen war): die sogenannten Round-Trip Transaktionen – in Anlehnung an den englischen Begriff für ein Drehtablett auf dem Esstisch auch als „Lazy Susan“ bekannt, – bei denen zwei oder mehr Unternehmen durch wechselseitiges Hin- und Herschieben von Aufträgen künstlich Aktivität zeigen und damit Umsätze realisieren können.

Als normal-geübter Bilanzleser kann man derlei Vorgehen meist nur schwer erkennen. Und ob die Wirtschaftsprüfer all diese Überlegungen wieder geradebiegen werden, bleibt abzuwarten. Erfahrungsgemäß benötigt die Etablierung gelebter Standards meist mindestens ein paar Jahre. Und so dürfen sich die Freunde intensiver Fundamentalanalyse also freuen: Die diesjährige Bilanzsaison wird sicher ein paar Leckerbissen für sie bereithalten.

Für alle anderen – insbesondere die meisten Kleinanleger – bleibt leider die Erkenntnis, dass sich die Informationsqualität der Rechenwerke durch den IFRS 15 erst einmal nicht notwendigerweise erhöhen wird. Manch einer mag das enttäuschend finden. Doch letztendlich ist es eben gerade dieses Wissen um die Grenzen der modernen Rechnungslegung (und eben nicht das blinde Vertrauen in die Aussagekraft der IFRS), das für die nötige Vorsicht, Aufmerksamkeit und Demut bei der Aktienanalyse sorgt.

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%