Verkehrte (Finanz)welt
Finanz-Apps helfen bei den verschiedensten Geldanlagestrategien, es gibt auch welche für Behavioral-Finance-Ansätze. Quelle: imago images

Behavioral Finance: Digitale Angebote verändern die Geldanlage

Bei einigen Finanzinstituten können Privatanleger mittlerweile Erkenntnisse aus den Verhaltenswissenschaften (Behavioral Finance) für die Geldanlage nutzen. Neue Online-Lösungen machen dies möglich. Ein echter Mehrwert?

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Wie in einigen der vorangegangenen WiWo-Kolumnenbeiträge bereits skizziert, ist die Zahl der „Neubörsianer“ in Deutschland im vergangenen Jahr rapide gestiegen. Je nach Berechnungsmethode investierten 2020 rund 2,7 Millionen Menschen mehr in Aktien, Aktienfonds und aktienbasierte ETFs. Besonders stark war der Anstieg der unter 30-Jährigen. Diese Zielgruppe ist zumeist digital affin, weist aber noch geringe Börsenkenntnisse und Erfahrungen auf. Könnte die Integration verhaltenswissenschaftlicher Ansätze (Behavioral Finance) in Apps und Finanzdienstleistungen eine Hilfe für Anleger sein? Es lohnt sich einen Blick darauf zu werfen, wie diese Konzepte in der Praxis implementiert werden.

Digitale Antragsstrecken nehmen Fahrt auf

Ziel der Verhaltenswissenschaften im Investmentsektor ist es, Anomalien und sogenannte „Biases“ (Verzerrungen durch emotionale Befangenheit) im Anlageprozess aufzudecken. Ist das Wort „Nudging“ im politischen Raum mittlerweile durchaus ambivalent besetzt, so bedeutet es hier im Sinne der Wissenschaftler Richard H. Thaler und Cass R. Sunstein vor allem einen (positiven) Anstoß, um eigenverantwortlich „kluge“ Investitionsentscheidungen zu treffen. Beispiel für einen konkreten Anwendungsbereich sind volldigitalisierte Antragsstrecken. Insbesondere Robo Advisory-Häuser haben (in Kooperation mit FinTechs) zuletzt vorgemacht, wie sich Informationen etwa zur Anlagedauer und Risikotragfähigkeit sammeln und auswerten lassen. Über diesen Prozess können initial bereits bedeutende Renditekiller oder Diversifikationsmängel identifiziert werden.

Ebenso bieten die ermittelten Informationen eine Orientierung, ob Anlegerinnen und Anleger potenziell zu Selbstüberschätzung oder selektiver Informationswahrnehmung neigen. Nach Abgleich dieser Datenlage können „Abwehrmaßnahmen“ angewandt werden, um zu passenderen Empfehlungen zu kommen - etwa durch zusätzliche „Review“-Prozesse, mit denen alle Angaben kritisch hinterfragt und plausibilisiert werden oder flankierend durch automatisierte Depotanalysen.

Nicht erst seit Corona wichtig: Virtuelle Tools

Ein wichtiges Spielfeld zur Integration behavioraler Ansätze innerhalb der Banking-Landschaft sind sogenannte Depot-Cockpits. Gemeint sind damit moderne Funktionen des Online-Banking, mit denen der Anleger seine Depotstruktur sowie Bestand, Anlageentscheidungen und Orderstrecken im Blick behält. Diese Werkzeuge sind im Idealfall auf allen Endgeräten, auch mobil, nutzbar.

Verhaltenswissenschaftliche Ansätze können hier beispielsweise eingesetzt werden, um dem weitverbreiteten „Home Bias“ (auch genannt: „Familiarity Bias“) entgegenzuwirken. Gemeint ist damit die Tendenz, verstärkt in Aktien heimischer Unternehmen (die einem bekannt vorkommen) zu investieren, woraus nicht selten Klumpenrisiken oder mangelnde Diversifikation im Depot resultieren. Diese Risiken können dem Anleger mittels grafischer Aufbereitungen transparent gemacht werden. Durch eine „intelligente“ Orderstrecke kann aufgezeigt werden, wie sich Anlageentscheidungen und Biases auswirken (zum Beispiel Verstärkung des Home Bias durch einen weiteren „heimischen“ Aktienkauf von BMW-Aktien). Zusätzlich können Vorschläge zur Reduktion des geografischen Risikos eingeblendet werden (zum Beispiel Anzeige von Kaufvorschlägen für Ford- oder Toyota-Aktien).

Ein weiteres Anwendungsszenario kommt in Betracht, um der angesprochenen Selbstüberschätzung von Anlegern zu begegnen, die sich zuweilen in unverhältnismäßiger Risikofreude widerspiegelt. So kann etwa der Einfluss eines Investments auf das Gesamtrisiko eines Portfolios im virtuellen Depot-Cockpit vor der eigentlichen Anlagescheidung illustriert werden. Ebenfalls können vorab festgelegte Risikopräferenzen abgeglichen werden: Bei einer erhöhten Risikoübernahme wird der Anleger informiert und erhält, passend zum Risikoprofil, einen entsprechenden Alternativvorschlag.

Ausblick: Behavioral Finance lohnt sich auch für Privatanleger

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Obwohl die Konzepte und Erkenntnisse der verhaltenswissenschaftlichen Finanzmarktlehre weitgehend gut erforscht und wissenschaftlich etabliert sind, ist ihre Implementierung im Digital Banking noch längst nicht flächendeckend umgesetzt. Für Anleger kann es sich lohnen, nach denjenigen Anbietern Ausschau zu halten, die sich über Behavioral Finance-Zusatzservices vom Wettbewerb differenzieren. Dies trifft mithin auf die neue, junge Anlegergeneration zu, die mit dieser Hilfestellung vielleicht etwaige Anfängerfehler vermeidet. Aber auch die versierteren Sparer und Kleinanleger können von dem zusätzlichen Gewinn an Perspektive profitieren.

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