Verkehrte (Finanz)welt

So verpassen Sie nicht den Wendepunkt an der Börse

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Börse ist Psychologie

Dabei müssen wir uns bewusst machen, dass der Wert einer Aktie keine objektive Größe ist. Vielmehr spiegelt die Bewertung der Aktienmärkte lediglich die unterschiedlichen Erwartungen wenig rationaler Marktteilnehmer über eine ungewisse Zukunft wider. Deshalb ist Börse Psychologie und ein Fall für die Hirnforschung. Die Anfälligkeit für emotionale Verhaltensmuster wie Gier, Angst, Panik und Herdenverhalten ist einfach zu groß. Die regelmäßig entstehenden Phasen von Über- oder Unterbewertung werden zwar mittel- bis langfristig korrigiert. Allerdings sind weder der Zeitpunkt noch der Auslöser für eine vermeintlich überfällige Korrektur prognostizierbar.

Vergangene Börsenzyklen lehren, dass sich die Übergänge vom Bullen- zum Bärenmarkt sehr rasch vollziehen. Wendepunkte kommen plötzlich und unerwartet. Aber immer mit Vorwarnung. Gerade die aufkommenden unterschiedlichen Meinungen am Markt, die wir seit einiger Zeit vernehmen, deuten auf ein Phänomen hin, das in Wendephasen häufig auftritt. Die Märkte tun sich offenbar schwer, die Risiken richtig einzupreisen. Diese Zeitverzögerung ist typisch. Eine Neubewertung der Märkte erfolgt dann abrupt. Es ist der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt.

Risiko, den Wendepunkt zu verpassen

Das Umfeld für die Aktienmärkte in diesem Jahr hat sich nachhaltig verändert.  Der Giftcocktail aus politischen Risiken, globaler Konjunkturschwäche, Handelskonflikten, die Unklarheit über das Ausmaß der wirtschaftlichen Schwäche Chinas  und eine bisher nicht gekannte Gewinnrezession der Unternehmen wirkt schleichend. Die Zentralbanken verfügen über kaum Gegenmittel mehr, falls es einen Ausverkauf an den Börsen geben sollte. Es sei denn, die EZB greift in Panik zu japanischen Methoden und kauft im großen Stil Aktienpakete auf, um einen Crash zu verhindern.

Unter Risiko-Rendite Gesichtspunkten fällt es schwer, in diesem Jahr gute Argumente für eine Übergewichtung in Aktien zu finden. Statistiken zeigen, dass der größte Teil der Jahresperformance in den ersten beiden Monaten gemacht wird. Warum also nach dieser soliden Bärenmarktrally seit Anfang des Jahres noch Risiken eingehen? Viele professionelle Investoren haben ihre Portfolios frühzeitig angepasst, defensiver ausgerichtet, Cash-Bestände erhöht und teilweise abgesichert. Denn das Risiko, einen Trendwechsel zu verpassen, ist groß.

Vorbereitung auf den Cortisol-Schock

Stehen wir vor dem sogenannten unumkehrbaren Tipping-Point, der Moment, wenn der Markt abrupt und unaufhaltsam kippt? Den richtigen Zeitpunkt für einen Ausstieg aus den Märkten kann niemand vorhersagen. Aber jeder Anleger sollte einen klaren Plan haben für den Fall, dass es zu einer größeren Korrektur kommt. Denn ein Börsencrash ist nichts anderes als ein Cortisol-Schock. Wenn über die Nebennierenrinde das Stresshormon Cortisol ausgeschüttet wird, sind wir von archaischen Instinkten gesteuert und der Verstand ist abgeschaltet. Die Masse verkauft in Panik alles, wie vergangene Einbrüche eindrucksvoll belegen. Für Reue ist es dann zu spät. „Bullenmärkte sterben nicht an Altersschwäche – sondern durch Kopfschuss!“ So lautet die vollständige Börsenweisheit der Wall Street.

Roland Ullrich, CFA, ist freiberuflicher Managementberater und gilt als führender Neuro-Finanzexperte. Ein über viele Jahre angeeignetes Wissen in Psychologie und Neurowissenschaften verbindet er mit seiner Erfahrung an den internationalen Kapitalmärkten aus 20 Jahren Tätigkeit bei internationalen Banken in Frankfurt, London und New York. Zuletzt war er als Bereichsleiter einer in Frankfurt ansässigen Großbank für das globale Aktiengeschäft verantwortlich. Roland Ullrich hat Volkswirtschaftslehre an der Universität Bonn studiert und mit Diplom abgeschlossen. Seit dem Jahr 2000 ist er als Chartered Financial Analyst (CFA) qualifiziert und Mitglied der CFA Society Germany.

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