Verkehrte (Finanz)welt
Die Anzahl der Deutschen, die sich mit Aktien beschäftigen, steigt. Es ist eine Mischung aus Chancensuche und Alternativlosigkeit angesichts des Zinsumfelds. Quelle: imago images

Erleben wir in Deutschland gerade eine neue Aktienkultur?

Die Anzahl der Deutschen, die sich mit Aktien beschäftigen, steigt. Es ist eine Mischung aus Chancensuche und Alternativlosigkeit angesichts des Zinsumfelds, die vor allem jüngere Bundesbürger antreibt. Eine Zäsur?

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Verschiedene Studien haben immer wieder belegt, dass wir Deutschen in der Vergangenheit eher „Aktienmuffel“ waren. Die Aktienquote lag bis zum Jahr 2019 häufig nicht über 15 Prozent, ein Großteil des Vermögens war in Spareinlagen gebunden. Diese Skepsis erhöhte sich zumeist sogar noch in Krisensituationen: Dann reagierten private Anleger meist mit einem Rückzug aus den Aktienmärkten. Doch nicht so während der Coronakrise. Obwohl die Aktienkurse zu Beginn der Covid-19-Pandemie gewaltige Einbrüche zu verzeichnen hatten und insgesamt eine hohe Volatilität aufwiesen, kam es zu erheblichen Zuflüssen bei Wertpapieren. Erleben wir eine Zäsur?

Hohe Sparquote

Um dies seriös zu beantworten, muss man zunächst einen Blick darauf werfen, inwieweit den Deutschen überhaupt Kapital für Investitionen zur Verfügung steht. Der Corona-Effekt war hier immens: Mit weniger Gelegenheiten, um während der Lockdowns Geld für Freizeit, Gastronomie oder Urlaub auszugeben, stieg auch die Sparquote. Und zwar erheblich. Im ersten Quartal des laufenden Jahres kletterte die Sparrate auf über 23 Prozent. Ein neuer Rekord. Noch nie seit der deutschen Wiedervereinigung wurde ein größerer Teil des Einkommens zurückgelegt. Seit Beginn der Corona-Pandemie haben die Deutschen über 150 Milliarden Euro mehr gespart als sonst. Allerdings: Viel Geld wurde auf Girokonten geparkt. Der traditionell hohe Anteil von Sichteinlagen und Bargeld am Geldvermögen der Deutschen erhöhte sich bis Ende letzten Jahres zusätzlich auf fast 30 Prozent.

Anlagestau

Es ist also keineswegs reißerisch zu sagen, dass sich ein stetig zunehmender, gigantischer Geldanlagestau gebildet hat. Und es ist diese Gemengelage aus realem Negativzins, Suche nach Rendite und (unfreiwilligem) Sparvermögen, die die risikoscheuen Deutschen dazu bringt, sich mehr mit nicht-festverzinslichen Anlageformen zu beschäftigen. Tatsächlich legten deutsche Privatanleger im Jahr 2020 mit über 40 Milliarden Euro rund dreimal so viel Geld neu in Aktien an als im Durchschnitt der Jahre zuvor. Parallel dazu stieg auch die Zahl der neu eröffneten Wertpapierdepots hierzulande signifikant. Sind wir also in Sachen Aktienkultur bald kein Entwicklungsland mehr?

Mit Bedacht investieren

Stagnierte die Zahl der Aktionäre in den vergangenen Jahrzehnten bei unter zehn Millionen, so haben wir jetzt tatsächlich die Chance, dies zu ändern. Das Deutsche Aktieninstitut berichtet, dass die Zahl der Neuaktionäre in allen Altersklassen steigt – der größte Zuwachs, mit deutlichem Abstand, ist in der Altersklasse der 20- bis 29-Jährigen zu verzeichnen. Dass sich viele junge Erwachsene mehr für Aktien interessieren, halte ich aus volkswirtschaftlicher Sicht für ausgesprochen positiv. Denn mit steigendem Einkommen verfügen diese jungen Aktionäre künftig über ein wachsendes Anlagevolumen. Sie verhelfen Unternehmen zu Kapital und profitieren im besten Fall vom wirtschaftlichen Wachstum und Erfolg.

Vielfach zu beobachten ist derzeit, dass Investments eher in die Spekulation gehen beziehungsweise in Einzeltitel und Nebenwerte. Dadurch laufen wir Gefahr, dass eine nächste Anlagegeneration junger Kapitalmarktteilnehmer den Aktienmarkt wiederum potenziell eher mit Verlusten assoziieren könnte.

Es gibt aber auch solche, die systematisch vorgehen, und ihr Geld über verschiedene Anlageklassen streuen: Je länger die Niedrigzinsphase anhält, desto nachhaltiger wird der Trend zu passiv-gemanagten ETFs oder aktiv gemanagten Fonds, mit denen sich ein breiter Investmentansatz und Diversifikation umsetzen lassen. Stabilisierend wirkt zudem die zunehmende Verbreitung von Fondsparplänen und Sparplänen für Einzelaktien. Zahlen des führenden Wertpapierabwicklers in Deutschland deuten auf einen Anstieg der Transaktionen bei Fonds- und ETF-Sparplänen um nicht weniger als 85 Prozent im Jahr 2020 hin. Fonds- und Wertpapiersparpläne verdrängen zunehmend die früher sehr beliebten Einlagen-Sparverträge der Banken.

Ausblick: Ein nachhaltiger Trend?

Bei einer derartigen Entwicklung stellt sich natürlich die Frage: Wer profitiert? Sicherlich haben zahlreiche sogenannte Neo Broker und Direktbanken mit userfreundlichen Frontends ihre Aktivitäten in Richtung dieser neuen Zielgruppen ausgerichtet und konnten Neugeschäft gewinnen. Meine Hoffnung ist jedoch, dass tatsächlich viele der jüngeren Bundesbürger in Deutschland langfristig profitieren. Eine aktuelle Umfrage der CFA Society Germany legt nahe, dass es der Wunsch vieler junger Leute ist, in den Schulen und Universitäten mehr über das Thema Finanzen zu lernen und so Chancen ökonomischer Bildung wahrzunehmen. Wichtig ist meines Erachtens, dass sie über Risikoklassen und Anlagehorizonte, aber auch über Börsenpsychologie umfassend aufgeklärt werden. Nur so schließen wir in Deutschland glaubhaft und langfristig in Sachen Aktienkultur etwa zu den skandinavischen Ländern auf.

Angesichts der Herausforderungen mit den Rentensystemen können langfristige Erträge von Aktienanlagen für die jüngere Generation aus volkswirtschaftlicher Sicht ein wichtiger Baustein in der Altersvorsorge und im Vermögensaufbau sein.

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