Die Zahl der Neuaktionäre aller Altersklassen – vor allem bei den jüngeren Bundesbürgern – ist in Deutschland in den vergangenen Jahren rapide gestiegen. Indes: Das Thema „Financial Literacy“ (finanzielle und ökonomische Allgemeinbildung) bleibt weiterhin eine Baustelle. Zahlreiche nationale und internationale Studien (etwa OECD/INFE) legen hierzulande ein eher unterdurchschnittliches Niveau nahe. In einigen Bereichen hinken wir anderen Ländern hinterher.
Die Einstiegshürden für den Zugang zum Handel mit Finanzprodukten sind allerdings eher niedrig. Bisher werden bei Privatpersonen vor einem Trade zwar Kenntnisse und Erfahrungen abgefragt, diese aber kaum validiert. Eine neue Leitlinie der europäischen Aufsichtsbehörde ESMA zu den „Anforderungen an Angemessenheit und Ausführung“ könnte nun als Chance für Banken und Anleger begriffen werden.
Ausgestaltung noch unklar
Im Kern geht es bei der Initiative (Teil des MiFID-II-Rahmenwerks) um europaweit einheitliche Standards für eine ernsthafte Prüfung der Kenntnisse von Privatanlegern, bevor diese in den Handel mit Finanzprodukten einsteigen. Die Idee ist, dass Anlegerinnen und Anleger eine Art Test durchlaufen, für den sie Fragen zu ökonomischen Sachverhalten oder zur Funktionsweise spezifischer Finanzinstrumente (etwa Optionsscheinen) beantworten. Der Zeitplan sieht vor, dass die Leitlinie – sechs Monate nach ihrer Veröffentlichung – nun in allen EU-Mitgliedsländern ausgerollt wird. Derzeit sind die nationalen Behörden dazu angehalten der ESMA mitzuteilen, ob sie den Neuerungen nachkommen können. Das Problem: Bezüglich der Detailtiefe und Ausgestaltung besteht am Markt noch erhebliche Unsicherheit. So ist zum Beispiel geplant, dass Anleger, die im Rahmen des Tests als „wissend“ eingestuft werden, entsprechend grünes Licht für den Handel erhalten. Doch wann genau wird ein Anleger als „wissend“ eingestuft? Wie viele Fragen müssen dafür – auf welchem Niveau – richtig beantwortet werden?
Empfehlungen: Auf das Kundenerlebnis kommt es an
Die Guidelines beziehen sich explizit auf solche Wertpapierdienstleistungen, die keine Anlageberatung oder Portfolioverwaltung („beratungsfreie Dienstleistungen“) beinhalten. Ich halte den Vorstoß der ESMA für hilfreich und sehe in einer fundierteren, praxisbezogenen Wissensprüfung einen Mehrwert – gerade für Börsenneulinge. Vieles wird von der Ausgestaltung durch die Finanzinstitute abhängen. Damit ein Beitrag zur Financial Literacy gelingt, bedarf es meines Erachtens vor allem guter Kundenerlebnisse: Finanzinstitute sollten den gesamten Prozess nicht als reine Pflichtübung sehen, sondern als Chance, um – mit möglichst interaktiven Elementen – Wissen zu vermitteln. Dazu einige Beispiele: Die Verfügbarkeit über digitale Kanäle, online und über App, sollte selbstverständlich sein. Zudem sollte der Prozess entzerrt werden von der Depoteröffnung (hier geht es eher um persönliche Daten wie Steuernummer und Anschrift), damit Anleger dies als eigenständiges „Wissens-Quiz“ ohne Zeitdruck fokussiert angehen können. Erfolgskritisch sind natürlich die formatseitige (u.a. Multiple Choice) und inhaltliche Ausgestaltung der Wissensfragen. Neben theoretischen Sachgebieten und elementaren Rendite-Risiko-Zusammenhängen sollte der Fokus auf die Vermittlung praktischen Know-hows gelegt werden, das auch in stürmischen Börsenzeiten nützlich ist. Dienlich wäre ebenfalls, wenn Anleger dazu Wissen angelernt bekommen, wie man sich zielgerichtet (offline und online) informiert und durch den Finanz-Informationsdschungel navigiert – etwa durch Hinweise und Verlinkungen auf profunde Wissensportale des eigenen Instituts oder externer Content-Anbieter. Abschließend sollte ein klar nachvollziehbares, transparentes Feedback unmittelbar erfolgen. Der Einbau anonymisierter, auflockernder Elemente (etwa „so haben andere Teilnehmer abgeschnitten“) könnte zusätzliche Lernanreize setzen.
Ausblick: Chance wahrnehmen
Es wird nun spannend, wie die ersten Lösungen am Markt aussehen werden. Positiv differenzieren dürften sich diejenigen Institute, die die neue Leitlinie nicht nur als regulatorische Anforderung, sondern als Chance verstehen. Für diese Häuser könnten die Änderungen ein Impuls sein, um lernaktivierende Elemente (zum Beispiel nach Gesichtspunkten der Behavioral Science) zu hinterfragen und neue Inhalte – etwa digitale Tools oder Podcasts – zur Verfügung zu stellen.
Manchem Anbieter dürfte es gelingen, ökonomische Sachverhalte zu vermitteln und Neugier am Investieren zu wecken. Damit wäre viel erreicht. Denn eines ist klar: Trotz der derzeit steigenden Zinsen dürfte ein Engagement am Aktienmarkt für einen nachhaltigen Vermögensaufbau weiterhin unverzichtbar sein.
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