Laut dem Investment Company Institute (ICI) flossen von 2012 bis 2021 circa 2,1 Billionen US-Dollar aus aktiven US-Fonds ab, während 2,2 Billionen US-Dollar in US-Indexfonds zuflossen. Auch 2022 setzte sich diese Entwicklung fort. Ein starker Treiber dieser Entwicklung ist neben systematischen Anlagestrategien die US-Altersvorsorge. Laut ICI sind 63 Prozent aller US-Haushalte im Besitz einer steuerbegünstigten Altersvorsorge.
Während die ältere Generation primär aktive Fonds besparte und diese nun rentenbedingt verkauft, setzt die jüngere Generation stärker auf passive Produkte. Indexfonds- und ETF-Anbieter sind zu den größten Vermögensverwaltern der Welt aufgestiegen und bei neun von zehn Unternehmen im S&P 500 größter Einzelaktionär. Allein drei ETF-Anbieter kontrollieren etwa 80 Prozent der Volumina von Indexfonds und ETFs. Diese Konzentration birgt Risiken, wie beispielsweise Graham Steel von der Anti-Monopol-Lobbygruppe American Economic Liberties Project in seiner Studie „The New Money Trust“ vom November 2020 zeigt.
Höhere Volatilität, Korrelation und Bewertungen
Passives Investieren erhöht die Korrelationen der Titel innerhalb eines Index – der Diversifikationseffekt nimmt ab. Zudem werden ETFs in angespannten Marktphasen häufig zuerst verkauft. Marktindizes, die stark passiv abgebildet werden, weisen deshalb häufig eine höhere Volatilität auf als Nischensegmente (etwa Small Caps) – was jeglicher finanzwirtschaftlicher Theorie widerspricht.
Passives Investieren begünstigt zudem höhere Bewertungen. Wenn ein ETF-Anbieter Zuflüsse verzeichnet, werden die zugrundeliegenden Indexkomponenten entsprechend der Indexgewichtung gekauft: Die Anleger investieren mehr in Aktien, die bereits sehr gut gelaufen sind und eine höhere Gewichtung haben – eine Momentum-Strategie.
Dieser Effekt verstärkt sich bei thematischen ETFs mit sehr kleinem Anlageuniversum und deshalb fehlender Diversifikation – deutlichen Gewinnen folgen häufig hohe Verluste für Anleger. Bei aktiven Anlegern ist häufig eine differenziertere Strategie zu beobachten. Sind Märkte teuer, halten sie mehr Bargeld oder investieren in Wertpapiere, die relativ günstig erscheinen. Der enorme Bewertungsanstieg der letzten Jahre war wohl auch getrieben von der Zunahme sogenannter „preisunelastischer“ Kapitalströme.
Ineffiziente Kapitalallokation und sinkender Informationsgehalt von Marktpreisen
In einer Welt mit ausschließlich passiven Anlegern würde das Kapital vorwiegend in große Unternehmen fließen. Es gäbe niemanden, der schlechte Anlagen aktiv abstößt oder gute auswählt. Noch ist es zum Glück nicht ganz so weit. Jedoch sorgen immer weniger Anleger für Effizienz. Passive Anleger ignorieren oft Geschäftsberichte und Fundamentaldaten. Mit dem abnehmenden Anteil aktiver Anleger wird weniger Aktienresearch betrieben. Die Informationseffizienz sinkt.
Nachhaltigkeit in der Finanzberatung: Schub für „grüne“ Anlagen?
Egal ob Investmentfonds, Aktie oder Rentenprodukt – Bankberater und Versicherungsvermittler sind vom 2. August an verpflichtet, Kundinnen und Kunden zu fragen, ob sie „grün“ investieren wollen und welche Präferenzen sie dabei haben. Dies muss dann bei der Produktauswahl berücksichtigt werden. Die Regelung ist Teil einer ganzen Reihe neuer EU-Vorgaben, die unter dem Kürzel „Mifid II“ schrittweise in Kraft treten. Es geht also bei der Anlageberatung künftig nicht mehr nur um Renditechancen und Risiko, sondern auch um Umwelt, Soziales und gute Unternehmensführung: Die Abkürzung ESG (englisch für: Environmental Social Governance) hält gewissermaßen Einzug in die Beratung.
Die EU-Kommission in Brüssel hat mit der Taxonomie eine Art Katalog für klimafreundliche Investitionen auf den Weg gebracht. Für Kritik sorgt, dass es in diesem Rahmen von Januar 2023 an auch als klimafreundlich gilt, Geld in bestimmte Gas- und Atomkraftwerke zu stecken. Das finden unter anderem Umweltschützer falsch. Anleger müssen sich also weiterhin sehr gut informieren, was sich hinter Finanzprodukten verbirgt, die als „nachhaltig“ vermarktet werden.
„Die Umsetzung der Mifid-II-Vorgaben ist für Berater ein Wahnsinn“, sagt Christian Klein, der als Professor an der Universität Kassel zum Thema nachhaltige Finanzwirtschaft forscht. „Das eine Problem ist: Wie kann in kurzer Zeit einem Kunden erklärt werden, was zum Beispiel Taxonomie und Offenlegungsverordnung sind? Das Hauptproblem ist dann das sogenannte Mapping: Wie findet ein Berater die passenden Produkte, die der Kunde dann auch kauft?“
Der Fondsverband BVI erklärte auf Nachfrage: „Dass es trotz unzähliger technischer Details und Vorschriften noch kein einheitliches Verständnis gibt, was nachhaltig ist, ist tatsächlich ein Problem.“ Mehr Klarheit können nach Ansicht des BVI nur europäische beziehungsweise internationale Mindeststandards schaffen: „Das gilt für ESG-Daten, die Unternehmensberichterstattung und Anforderungen an nachhaltige Produkte gleichermaßen. Deshalb setzen wir uns für solche internationalen Mindeststandards ein.“
Angenommen, ein Kunde will von 10.000 Euro 60 Prozent in ökologisch nachhaltige Anlagen im Sinne der EU-Taxonomieverordnung stecken. In diesem Fall könnte ein Anlageberater für 6000 Euro ein nachhaltiges Finanzprodukt empfehlen und für die restlichen 4000 Euro ein Produkt, das überhaupt nichts mit ESG zu tun hat.
Nach Einschätzung von Bankenpräsident Christian Sewing nimmt die Finanzbranche die Herausforderungen des Klimawandels sehr ernst. „Die Finanzbranche setzt inzwischen viele Ressourcen dafür ein, genau darauf zu achten, dass das, was wir als grün bezeichnen, auch wirklich grün ist“, sagte der Deutsche-Bank-Chef in seiner Funktion als Präsident des Bundesverbandes deutscher Banken (BdB) kürzlich im Gespräch mit der Nachrichtenagentur dpa. „Allen Marktteilnehmern ist bewusst, wie gefährlich Vorwürfe von Greenwashing sind.“
Die Politik will mehr Geld dorthin lenken, wo es dem Klima und der Umwelt nutzt, statt diesen zu schaden: Klimaschutz, Anpassung an den Klimawandel, nachhaltige Nutzung von Wasserressourcen, Wandel zu einer Kreislaufwirtschaft, Vermeidung von Verschmutzung sowie Schutz von Ökosystemen und Biodiversität und ähnliches. Die Europäische Union hat sich zum Ziel gesetzt, bis 2050 klimaneutral zu sein, Deutschland will das schon bis 2045 schaffen. Das heißt: Klimaschädliche Gase wie Kohlendioxid (CO2) sollen von da an vermieden oder gespeichert werden. Der Umbau der Wirtschaft von „braun“ zu „grün“ wird nach Einschätzung von Experten nur gelingen, wenn neben öffentlichen Milliarden auch Privatleute ihn mit ihren Investitionen mittragen.
Die Tendenz ist steigend. Das Forum Nachhaltige Geldanlagen (FNG) beziffert die Gesamtsumme nachhaltiger Geldanlagen in Deutschland zum 31. Dezember 2021 auf 501,4 Milliarden Euro. Das waren fast 50 Prozent mehr als ein Jahr zuvor. Der Anteil nachhaltiger Fonds am gesamten deutschen Markt stieg demnach binnen Jahresfrist deutlich von 6,4 Prozent auf 16,7 Prozent.
„In Umfragen sagen die meisten Deutschen seit Jahren, dass sie das Thema Nachhaltigkeit in der Geldanlage total spannend finden. Aber sie setzen es nicht um“, sagt der Kasseler Professor Klein. „Ich bin überzeugt: Wenn das jetzt den Kunden aktiv angeboten wird, werden wir eine riesige Nachfrage bekommen. Das holpert vielleicht am Anfang, weil die Materie komplex ist. Aber ich denke, dass viele Anleger am Ende nicht den 0815-Fonds kaufen werden, sondern irgendetwas Grünes.“
Der Fondsverband BVI ist allerdings skeptisch, dass der Bedarf auch ab sofort in jeder Hinsicht gedeckt werden kann: „In der ersten Zeit wird es voraussichtlich nicht genügend Produkte geben, um alle denkbaren Präferenzen der Kunden zu bedienen.“
Studien gehen davon aus, dass die preisunelastische Titelallokation passiver Produkte (heißt: die Zukäufe werden unabhängig davon getätigt, wie fundamental teuer oder günstig die Titel sind) schon heute Preissignale verzerrt, die Effizienz der Märkte reduziert und dadurch Geschäfts- und Investitionsentscheidungen erschwert. Diesen Aspekt haben unter anderem die Ökonomen und Studienautoren Doron Israeli, Charles M. C. Lee und Suhas A. Sridharan (Arison School of Business, Stanford und Emory University) in ihrem Papier „Is there a Dark Side to ETFs? An Information Perspective“ (2017) untersucht.
Niedrige Kosten täuschen
ETFs erscheinen günstig. Anleger sollten jedoch die impliziten Kosten berücksichtigen. Im Gegensatz zu Fonds, die zum Net Asset Value (NAV) erworben oder veräußert werden können, sind bei ETFs die Handelskosten (Geld-Brief-Spanne) vom Anleger zu tragen. Insbesondere in Stressphasen und bei weniger liquiden Underlyings können diese Kosten hoch ausfallen. Im März und April 2020, am Hochpunkt der Coronakrise, handelten Anleihe-ETFs zeitweise weit unter ihrem NAV. Bei häufigen Umschichtungen von ETFs können sich die Handelskosten zu deutlichen Beträgen summieren.
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Auch kann die Performance von ETFs darunter leiden, dass andere Marktteilnehmer absehbare Transaktionen der ETFs ausnutzen. So werden beispielsweise bei Indexänderungen die Aufsteiger durch Arbitrage-Fonds vorher gekauft. Ist der Umbau vollzogen, werden die Aktien häufig mit Gewinn wieder verkauft. Die ETFs kaufen damit Indexaufsteiger tendenziell überteuert und verkaufen Indexaussteiger zu günstig, wie der Finanzmathematiker Sida Li von der Universität Illinois Urbana-Champaign in seiner aktuellen Analyse „Should Passive Investors Actively Manage Their Trades?“ nahelegt.
Anwendung und Dosierung
Anleger sollten sich der Chancen und Risiken von passiven Kapitalflüssen bewusst sein und sich dieses Wissen zunutze machen. Für aktive Anleger macht der Einsatz von ETFs in effizienten Märkten wie dem US-Aktienmarkt oder für taktische Positionen Sinn.
Ansonsten hat man als Anleger eher einen Vorteil, wenn man sich in Nischenmärkten bewegt, die noch keine oder eine geringe ETF-Durchdringung haben. Diese sind dann weniger korreliert zum Gesamtmarkt, häufig weniger volatil und dürften sich insbesondere in Krisenzeiten besser behaupten.
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