Eine Art Ebbe am Devisenmarkt sieht Thu Lan Nguyen, Devisenanalystin der Commerzbank, noch nicht. „Noch ist genug Liquidität im Markt“, sagt Nguyen. Kurz vor der Bekanntgabe des Referendums-Ergebnisses könnte es allerdings sein, dass der Markt so illiquide ist, so dass Risiko für überraschende Kurssprünge bestehe. Aus Finanzkreisen heißt es, dass viele Broker ihre Handelstische während des Referendums rund um die Uhr besetzt halten wollen.
Kurssprünge wären zum Beispiel zu erwarten, wenn Investoren in den Tagen um das Referendum das britische Pfund massiv verkaufen würden. Noch ist das nicht in extremer Form der Fall. „Die Prämien für Optionen auf eine Aufwertung des Dollars sind zur Zeit sehr hoch“, sagt Nguyen. Ein Brexit würde zwar immer mehr eingepreist, Investoren sicherten sich mit Dollar-Optionen ab, so die Commerzbank-Analystin. Noch komme es aber nicht zu massenhaften Pfund-Verkäufen, welche im Fall einer ganz realen Brexit-Angst zu erwarten wären.
Fluchtwährungen gefragt
Auch der Euro gehört zu den Währungen, die im Fall eines Brexit gegenüber dem Dollar wohl stärker abwerten würden. Die Commerzbank rechnet kurzfristig mit einem Minus von vier bis fünf Prozent. Einige Analysten gehen sogar davon aus, dass die Gemeinschaftswährung relativ schnell die Parität zum Dollar erreichen könnte. Noch kostet ein Euro etwas mehr als 1,11 Dollar und verlor in der vergangenen Woche rund ein Prozent. Anders beim Greenback: "Der US-Dollar, der immer noch die weltweit bedeutendste und liquideste Währung darstellt, wird als sicherer Hafen gefragt sein", sagt Devisenexperte Hettler.
Die schwierige Beziehung der Briten zu Europa
Die Beziehungen zwischen Großbritannien und der Europäischen Union waren nie einfach. Der konservative britische Premierminister David Cameron will bei einer Wiederwahl 2017 ein Referendum über den Verbleib in der EU ansetzen - und vorher das Verhältnis des Königreichs zu Brüssel neu verhandeln. Geprägt von tiefem Misstrauen gegenüber Europa setzte Großbritannien in der Vergangenheit wiederholt Sonderregeln durch - und steht traditionell mit einem Fuß außerhalb der EU.
Da Großbritannien zwar viel in den EU-Haushalt einzahlte, aber kaum von den milliardenschweren Agrarhilfen profitierte, forderte die britische Premierministerin Margaret Thatcher 1979: „I want my money back!“ („Ich will mein Geld zurück!“) Die „Eiserne Lady“ setzte dann 1984 eine Rabatt-Regelung für ihr Land durch, nach der Großbritannien 66 Prozent seines Nettobeitrags an die EU zurückerhält. Der Rabatt besteht bis heute, obwohl er immer wieder den Unmut anderer EU-Länder erregt, da sie nun den britischen Anteil mittragen müssen. Doch abgeschafft werden kann die Regel nur, wenn London zustimmt.
Wer von Deutschland nach Frankreich, Österreich oder in die Niederlande reist, muss dafür seinen Pass nicht vorzeigen. Großbritannien-Urlauber sollten den Pass jedoch dabei haben: Die Briten haben sich nicht dem Schengen-Abkommen angeschlossen, das den EU-Bürgern Reisefreiheit von Italien bis Norwegen und von Portugal bis Polen garantiert.
Seit der EU-Vertrag von Lissabon im Jahr 2009 in Kraft getreten ist, kann Großbritannien wählen, an welchen Gesetzen im Bereich Inneres und Justiz es sich beteiligt. Zudem erwirkte die britische Regierung den Ausstieg aus 130 Gesetzen aus der Zeit vor dem Lissabon-Vertrag. Im Dezember 2014 stieg London dann bei rund 30 Regelungen wieder ein, darunter beim Europäischen Haftbefehl. Diese „Rosinenpickerei“ nervt im Rest der EU viele.
In der Verteidigungspolitik setzt Großbritannien auf die Nato. Als EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker im März für den Aufbau einer europäischen Armee warb, kam das „No“ aus London postwendend. „Verteidigung ist eine nationale, keine EU-Angelegenheit“, sagte ein Regierungssprecher. Obgleich Großbritannien Ende der 1990er Jahre den Widerstand gegen die Gründung der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) aufgab, wacht es darüber, dass die Europäer hier nicht zu weit gehen. So hat London verhindert, dass es ein Militärhauptquartier in Brüssel gibt. EU-Einsätze wie etwa in Mali werden deshalb dezentral aus den Mitgliedstaaten geleitet.
Auch in der Euro-Krise ist die an ihrer Pfund-Währung festhaltende britische Insel ein gutes Stück weiter von der Kern-EU weggedriftet. Mit Sorge wurden in London die mühseligen Arbeiten zur Euro-Rettung beobachtet, zudem fürchtete die britische Regierung Folgen für den Finanzstandort London durch strengere Banken-Regulierung oder eine Finanztransaktionssteuer. Für Empörung in der EU sorgte, dass sich Großbritannien dem Fiskalpakt für mehr Haushaltsdisziplin nicht anschloss.
Anleihen werden zum Verlustgeschäft
Noch sprunghafter dürfte das Referendum aber für als sichere Häfen bekannte Währungen wie den japanischen Yen und den Schweizer Franken verlaufen. Schon jetzt flüchten Investoren in den Franken, im Vergleich zum Euro hat dieser seit dem Start der vergangenen Handelswoche drei Prozent an Wert gewonnen. Das ist die stärkste Aufwertung seit Januar 2015, als die Schweizer Notenbank SNB überraschend die Kopplung des Franken an den Euro aufhob.
Das Interesse der Investoren an der Schweiz zeigt sich auch auf dem Bondmarkt. Am Donnerstag fiel die Rendite für eine 30-jährige Staatsanleihe erstmals auf null Prozent. Damit rentieren nahezu alle Schweizer Staatsschuldentitel mittlerweile im negativen Bereich. Zum Vergleich: bei deutschen Bundesanleihen fiel die Rendite für zehnjährige Anleihen am Dienstag erstmals in den negativen Bereich. Anleihen mit längerer Laufzeit haben allerdings eine positive Rendite.
"Wir erwarten, dass es im Fall eines Brexit zu Turbulenzen kommen könnte", sagte deshalb SNB-Präsident Thomas Jordan nach der Verkündung des Zinsentscheids am Donnerstag. Wenn es zu einem Brexit komme, werde es in einer ersten Phase darum gehen, stabilisierend am Markt einzugreifen. Auch Analysten erwarten, dass die Schweizer Notenbank sofort eingreifen werde, um eine rasante Aufwertung des Franken zu verhindern. In der exportorientierten Schweizer Wirtschaft könnte ein starker Franken das Wachstum gefährden, da viele Unternehmen darunter leiden dürften, dass ihre Produkte im Ausland teurer werden.
Zinsseitig ist der Spielraum der SNB nicht sehr groß. Schon jetzt liegt der Einlagezins, den Banken für Geld bei der Notenbank zahlen, bei minus 0,75 Prozent. Als wahrscheinlicher gilt daher, dass die SNB direkt am Devisenmarkt interveniert, um den Franken zu schwächen. In dem sie Euro mit Franken kauft, schwächt sie die heimische Währung. "Im Falle eines Brexit gehen wir davon aus, dass die Märkte 1,05 Franken je Euro testen werden", sagt Karsten Junius, Chefökonom der Bank J Safra Sarasin in Zürich. "Ein Niveau von dem wir erwarten, dass es die SNB erbittert verteidigen wird."