„Deutsche Wohnen und Co. enteignen“ Zieht jetzt der Sozialismus auf dem Berliner Wohnungsmarkt ein?

Eine Mehrheit der Berliner hat vor einem Jahr dafür gestimmt, große Wohnungskonzerne zu enteignen. Quelle: Stefan Boness/Ipon

Vor einem Jahr hat die Mehrheit der Berliner für die Vergesellschaftung von Wohnungsunternehmen gestimmt – und damit eine hitzige Kontroverse ausgelöst. Was ist seitdem passiert?

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„Schnauze voll, Taschen leer, Mieten runter, Enteignung her!“, steht auf lilafarbenen Plakaten, die Berliner Litfaßsäulen zieren und zu einer Veranstaltung einladen: zur „Vergesellschaftungsfete“ an der Volksbühne, direkt am Rosa-Luxemburg-Platz – mit DJ und Eierwerfen.

Für das Event hätten sich die Veranstalter wohl keinen besseren Ort aussuchen können als einen Ort, der nach einer linken Vordenkerin benannt ist. Geplant wurde die Veranstaltung nämlich von der Initiative „Deutsche Wohnen und Co. enteignen“, deren Kritiker ihr vorwerfen, die Grundfesten der Marktwirtschaft zu erschüttern.

Nicht ohne Grund: Öffentlichkeitswirksam warb die Initiative dafür, große Wohnungsunternehmen zu vergesellschaften, und initiierte einen Volksentscheid. Ein bislang beispielloses Unterfangen, mit dem die Initiative einen großen Erfolg feierte. 56,4 Prozent der Berliner stimmten im September 2021 dafür, Deutsche Wohnen und Co. zu enteignen. Jetzt fordert gar die Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (IG BAU) für eine Teilverstaatlichungen von Deutschlands beiden größten Wohnungskonzernen Vonovia und die Düsseldorfer LEG aus. Ziel sei eine Sperrminorität bei den Wohnungskonzernen, um den „Miet-Haien“ die Zähne zu ziehen, sagte Robert Feiger, Bundesvorsitzender der IG BAU.



Die Bürger haben gesprochen, doch die Probleme sind keinesfalls gelöst. Seit dem Volksentscheid ist kein einziges Unternehmen enteignet worden. Stattdessen tobt die Diskussion zwischen Befürwortern und Kritikern weiter. Wo steht Berlin ein Jahr nach dem Volksentscheid?

Wenn es nach den Hauptstadtbewohnern geht, ist klar: Der Wohnungsmarkt muss sich radikal verändern, besser gestern als heute. Konkret stimmten sie dafür, Wohnungskonzerne mit mehr als 3000 Bestandswohnungen zu vergesellschaften. Das würde mehr als 200.000 der insgesamt 1,5 Millionen Wohnungen in der Hauptstadt betreffen. Besonders im Fokus der Aktivisten: Vonovia, die im Herbst vergangenen Jahres den Berliner Konkurrenten Deutsche Wohnen geschluckt hat. Durch die Übernahme ist der Dax-Konzern aus Bochum zum größten Immobilienunternehmen Europas aufgestiegen.

Unter dem Motto „Keine Rendite mit der Miete“ sollen vergesellschaftete Wohnungen in eine Anstalt öffentlichen Rechts übertragen werden, die die Wohnungen gemeinwohlorientiert verwaltet. Viele Beobachter bezweifeln, dass ein Verwaltungsapparat, der schon mit der Digitalisierung bürokratischer Vorgänge überfordert ist, das leisten kann.

Sind Enteignungen verfassungskonform?

Noch ist der Sozialismus nicht am Berliner Wohnungsmarkt eingekehrt. Das liegt auch daran, dass der Berliner Senat den Volksentscheid nicht zwingend umsetzen muss. Letztlich war dieser nur ein – ziemlich eindeutiges – Stimmungsbarometer.

Moheb Shafaqyar von der Initiative „Deutsche Wohnen und Co. enteignen“ stört sich daran, dass die Politik das Ergebnis der Abstimmung nicht respektiere. Schließlich hätten mehr Menschen für die Enteignung gestimmt als für die regierenden Parteien zusammen. „Die Regierung setzt sich dadurch der Gefahr aus, dass ihre eigene Legitimität in Frage gestellt wird,“ so der Aktivist.

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Sehr wohl aber muss der Senat überprüfen, ob eine Vergesellschaftung mit dem Artikel 15 des Grundgesetzes begründet werden kann. Da steht: „Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinschaft überführt werden.“

Anders ausgedrückt: Eine Vergesellschaftung kann legitim sein, wenn sie dem Allgemeinwohl zugutekommt – und es keine andere Möglichkeit gibt, einen Notstand zu lindern. Schon im Vorfeld der Enteignung hatten allerdings viele Juristen angezweifelt, ob die Situation auf dem Wohnungsmarkt Enteignungen rechtfertigt. Schließlich könnte auch der Bau neuer Wohnung forciert werden. Schon jetzt ist klar: Sollte die Politik Wohnungsunternehmen tatsächlich enteignen, müssten sich die Gerichte damit beschäftigen, ob dieser Schritt verfassungskonform ist.

Wohnen ist in Berlin Chefinnensache

Seit April dieses Jahres beschäftigt sich die „Expertenkommission zum Volksentscheid ‚Vergesellschaftung großer Wohnungsunternehmen‘“ damit, ob und wie eine Vergesellschaftung umgesetzt werden könnte. Die Mitglieder des 13-köpfigen Gremiums – die meisten davon Juristen – wurden auf Geheiß der rot-rot-grünen Berliner Koalition sowie von der Bürgerinitiative „Deutsche Wohnen und Co. enteignen“ entsandt.

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Eine Entscheidung fällt frühestens Ende April 2023. Bis dahin sind diverse Sitzungstermine anberaumt. In dem Gremium herrscht nicht nur Uneinigkeit über Organisatorisches wie die Frage, ob man die Sitzungen hybrid – also vor Ort und zugleich virtuell als Videokonferenz – durchführen soll, sondern auch darüber, wie Gemeinwohl überhaupt zu definieren ist.

Sollte das Gremium sich für eine Vergesellschaftung von Wohnungsunternehmen aussprechen, würde es sich damit gegen die Berlins regierende Bürgermeisterin stellen. Franziska Giffey (SPD) positioniert sich klar gegen Enteignungen und hat das Thema Wohnen zur Chefinnensache gemacht. Die Sozialdemokratin fordert, den Neubau von Wohnungen stärker voranzutreiben. Nötig ist das allemal. Zuletzt ist Berlin an seinen Neubauzielen gescheitert. 

Außerdem, so hieß es im Sommer von Giffey, müssten Mietsteigerungen eingeschränkt werden. Niemand solle mehr als 30 Prozent seines Haushaltsnettoeinkommens für die Miete zahlen. Ein Gesetz dazu wird es aber nicht geben. Die Entscheidung, ob Giffeys Forderung umgesetzt wird, liegt ausgerechnet bei den Vermietern. Die Proteste der Aktivisten von „Deutsche Wohnen und Co. enteignen“ dürften also anhalten.

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