Kreditwiderruf Die Rückkehr des Widerrufsjokers

Viele Kreditnehmer können weiterhin aus teuren Verträgen fliehen. Neue Urteile zeigen, wann das möglich ist und was zu beachten ist.

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Quelle: Fotolia, Montage

Es war ein Massenexodus. Tausende, womöglich Hunderttausende Immobilienbesitzer haben in den vergangenen Jahren früher abgeschlossene, teure Kredite widerrufen und durch neue Darlehen mit Niedrigzins ersetzt. Möglich war das, weil die Widerrufsbelehrungen vieler Banken fehlerhaft und damit unwirksam waren.

In der Folge startete die eigentlich zweiwöchige Frist für den Widerruf nicht, Kunden konnten Kredite theoretisch ewig widerrufen. Einzelne Anwaltskanzleien berichteten von dreistelligen, teils vierstelligen Mandantenzahlen; selbst der Eigentümerverband „Haus & Grund“ riet seinen rund 900.000 Mitgliedern zum „Widerrufsjoker“. Kein Wunder: Mit dem Widerruf konnten sie oft mehrere Tausend Euro pro Jahr sparen. Die WirtschaftsWoche hatte 2013 als eines der ersten Medien über diese Möglichkeit berichtet (etwa in Ausgabe 29/2013).

Nach einer Gesetzesänderung am 21. Juni dieses Jahres sollte Schluss mit der Flucht aus den teuren Krediten sein. Vielfach war pauschal vom „Aus für den Widerrufsjoker“ die Rede. Doch nun zeigt sich: In etlichen Fällen können Haus- und Wohnungseigentümer teure Kredite noch immer widerrufen und somit hohe Zinsbeträge sparen, ohne der Bank – wie bei regulärer Kreditkündigung – eine hohe „Vorfälligkeitsentschädigung“ zahlen zu müssen.

Mythen und Irrtümer der Immobilienfinanzierung
Kreditvertrag und Hausmodell Quelle: dpa
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„Der Widerruf ist tot: Es lebe der Widerruf!“, wirbt eine auf Kreditwiderruf spezialisierte Anwaltsgruppe – und spürt juristischen Rückenwind. „Bis auf wenige Ausnahmen setzen die Gerichte ihre verbraucherfreundliche Rechtsprechung auch bei Neuverträgen fort“, sagt der Berliner Anwalt Timo Gansel.

Was mancher Beobachter übersehen hatte: Die wichtigste Einschränkung des Widerrufsrechts gilt nur für Immobilienkredite und nur für „Altverträge“ – also für Finanzierungen, die vor Inkrafttreten der EU-Verbraucherkreditrichtlinie am 11. Juni 2010 abgeschlossen wurden. Solche Verträge dürfen Kunden seit 22. Juni dieses Jahres nicht mehr widerrufen; egal, wie falsch die Widerrufsbelehrung ist. Bei ganz neuen, seit 21. März abgeschlossenen, Immobilienkrediten ist der Widerruf zudem selbst bei falscher Belehrung maximal ein Jahr und 14 Tage nach Abschluss möglich.

Bei vorher abgeschlossenen Neuverträgen mit falschen Belehrungen „ist ein Widerruf dagegen weiter unbefristet möglich“, sagt Achim Tiffe, Anlegeranwalt bei der Kanzlei Juest und Oprecht in Hamburg. Dies betrifft zwischen 11. Juni 2010 und 20. März 2016 abgeschlossene Immobilienkredite.

Das Sparpotenzial ist auch hier erheblich: Aktuell zahlen Kunden für neu abgeschlossene Immobilienkredite mit fixem Zins für zehn Jahre im Schnitt nur 1,2 Prozent pro Jahr. Mitte 2010 kosteten diese Kredite noch über 3,5 Prozent (siehe Grafik). Kunden könnten per Widerruf bei einem im Juli 2010 zu 3,5 Prozent Zins abgeschlossenen 200.000-Euro-Kredit mit zehnjähriger Zinsbindung über 20 000 Euro sparen.

Informationen zum Widerruf, die wegen schwammigen Formulierungen unverständlich und damit falsch sind, waren auch bei Neuverträgen verbreitet. Tiffe schätzt den Anteil auf „rund zwei Drittel“ und damit nur etwas geringer als bei Altverträgen, bei denen die Quote laut Verbraucherzentrale Hamburg bei fast 80 Prozent lag. „Zahlreiche Banken sind auch bei Neuverträgen von der gesetzlichen Musterklausel abgewichen und haben unverständliche Formulierungen verwendet“, sagt Tiffe.

Verweise von einem Paragrafen auf den nächsten

Tatsächlich haben Gerichte bereits einige Klauseln in neuen Verträgen verworfen. Kunden, in deren Verträgen diese stehen, haben gute Fluchtchancen. Ganz sicher ist das aber nicht. Denn zu Formulierungen in Neuverträgen gibt es bislang zwar Urteile von Oberlandesgerichten, aber noch keine bindenden Entscheidungen des Bundesgerichtshofs (BGH). Vorerst bleibt also offen, ob komplexe Verweise von einem Paragrafen auf den nächsten und andere umstrittene Formulierungen tatsächlich einen Widerruf erlauben.

„Banken lassen sich derzeit nicht auf außergerichtliche Vergleiche ein, wie es bei Altverträgen in den vergangenen Jahren Usus war“, sagt Julius Reiter von der Kanzlei Baum Reiter + Collegen. Kreditnehmer müssten vor Gericht ziehen. Das sei nur ratsam, wenn sie eine Rechtsschutzpolice haben, die auch in solchen Fällen greift.

Bei der Mehrzahl der Interessenten sei dies der Fall, berichtet Anlegeranwalt Tiffe. Probleme gebe es bei neuen Policen: „Verträge, die seit Anfang 2015 abgeschlossen wurden, können Klauseln enthalten, die Rechtsstreitigkeiten im Zusammenhang mit einem Kreditwiderruf pauschal ausschließen.“ Seit jeher ungeschützt steht da, wer mit dem Kredit einen Neubau bezahlt hat – in diesem Bereich arbeiten Versicherer traditionell mit umfassenden Ausschlussklauseln.

Neben Rechtsschutz brauchen Widerrufswillige eine verbindliche Zusage für eine Anschlussfinanzierung, bevor sie tätig werden. Denn wer erfolgreich widerruft, muss die Restschuld binnen 30 Tagen ablösen. Sonst droht schlimmstenfalls eine Zwangsversteigerung. „In der Regel ist es aber kein Problem, eine Anschlussfinanzierung zu finden“, sagt Reiter.

Abseits der Immobilienkredite kann der Widerruf weitere Vorteile bieten: Einige Anleger wollen sich so von schlecht gelaufenen Geldanlagen lösen. So widerrief etwa ein Kunde der HSH Nordbank einen Kredit über 8000 Euro, mit dem er 2001 seine Beteiligung an einem geschlossenen Medienfonds finanziert hatte. Er berief sich auf ein Widerrufsrecht, weil er Widerrufsbelehrung und eine folgende Empfangsbestätigung nur ein Mal unterschrieben hatte. Da es sich um ein Haustürgeschäft gehandelt habe – für das strenge Schutzregeln gelten –, sei das nicht korrekt gewesen. Besonders interessant wäre der Widerruf für ihn, weil damit auch seine verlustreiche Fondsbeteiligung rückabgewickelt werden müsste.

Den Kredit hatte der Mann schon 2007 zurückgezahlt. Erst 2014 widerrief er den Vertrag. Während das Oberlandesgericht Hamburg das für missbräuchlich hielt, zeigte sich der Bundesgerichtshof vergangene Woche offener (BGH, XI ZR 501/15): Nur weil Kunden auch andere als die vom Widerrufsrecht geschützten Motive hätten, sei der Widerruf nicht ausgeschlossen. Nun muss die Vorinstanz erneut entscheiden.

Verhandlungsbereitschaft der Banken

Einzig Kunden mit alten Immobilienkrediten, die seit 22. Juni nicht mehr widerrufen werden können, müssen sich etwas anderes einfallen lassen. Ein Ansatz: In vielen Kreditverträgen sind feste Zinsen für zehn Jahre vereinbart. Auch bei längerer Zinsbindung besteht nach zehn Jahren ein gesetzliches Sonderkündigungsrecht.

Rückt dieser Zeitpunkt näher, zeigen sich Banken oft verhandlungsbereit. „Ein bis zwei Jahre vor Ablauf der Zinsbindung wächst auf Bankenseite in der Regel die Gesprächsbereitschaft“, sagt Anwalt Reiter. „Um Kunden nicht zu verlieren, stimmen die Verantwortlichen häufig zu, früher auf einen Kredit zu aktuellen Konditionen umzustellen.“

Schweren Herzens die Vorfälligkeitsentschädigung zu zahlen, um Bank und Kredit wechseln zu können, lohnt sich dagegen meist nicht. Laut einer Studie des Verbraucherzentrale Bundesverbands fallen im Schnitt elf Prozent der Restschuld als Vertragsstrafe an. Bei 100.000 Euro müssten Eigentümer also 11.000 Euro aufbringen – auf einen Schlag.

Die Berechnung dieser Vorfälligkeitsentschädigung ist umstritten. Banken kalkulieren zunächst, welche Einnahmen ihnen bis zum Ablauf der Zinsbindung entgehen – und ziehen im nächsten Schritt die Erträge ab, die sie mit dem vorzeitig zurückgezahlten Geld erzielen.

Dabei unterstellen sie meist jedoch nicht, dass sie neue Kredite vergeben, sondern dass sie sichere Wertpapiere kaufen, vor allem Hypotheken-Pfandbriefe. Und die liefern derzeit besonders magere Renditen, die deutlich unter den Kreditzinsen liegen. „Auf diese Weise blähen die Banken ihren vermeintlichen Schaden massiv auf“, kritisiert Tiffe.

Da der BGH die pauschale Kalkulation 2004 abgesegnet hat, sind Kunden mit bis zum Stichtag 21. März 2016 abgeschlossenen Krediten ihr aber wohl ausgeliefert. Kunden, die ihren Vertrag danach – und damit nach neuem EU-Recht – abgeschlossen haben, könnten hingegen Chancen auf günstigere Regeln haben.

Denn die neue EU-Wohnimmobilienkreditrichtlinie schreibt nun ausdrücklich vor, dass Banken nur ihren wahren Schaden einfordern dürfen. Nach Ansicht von Tiffe verstößt die Praxis der Banken deshalb sowohl gegen das im März in Kraft getretene deutsche Wohnimmobilienkreditgesetz als auch gegen Europarecht.

Er plant, die Sache vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) klären zu lassen. Das Problem: Kläger muss ein Immobilieneigentümer sein, der seinen Kredit seit 21. März 2016 abgeschlossen hat. Bis die ersten dieser Kredite gegen Vertragsstrafe gekündigt werden, „dürften aber noch ein paar Monate vergehen“, sagt Tiffe. Und dann folgt ein mühsamer Weg durch die Instanzen.

Vorerst bleibt als Notwehr gegen die horrenden Vorfälligkeitsentschädigungen also nur der Widerrufsjoker – und bei Altverträgen das Druckmittel Sonderkündigung.

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