
Norbert Walter-Borjans Verhältnis zur Kunst ist unklar. Einerseits ist bekannt, dass der nordrhein-westfälische Finanzminister in seiner Freizeit gern mal den einen oder anderen Marmorstein behaut, in seinem Amtszimmer steht eines der abstrakten Werke.
Andererseits zeigte er sich zuletzt ziemlich ungerührt, als die Landestochter Westspiel drei ihrer wertvollsten Kunstwerke verhökerte. 120 Millionen Euro brachten die Warhols, ein Teil der Einnahmen floss direkt in den Landeshaushalt – da ließ Walter-Borjans sich nicht zweimal bitten.
Jetzt aber schwenkt er um auf die Seite des Marmorsteins: Das Land wolle dafür sorgen, dass der gesamte künstlerische Nachlass der untergegangenen Landesbank WestLB der Öffentlichkeit zugänglich bleibe, verkündete Walter-Borjans zum Abschluss eines runden Tischs zum Thema.
Da die Abwicklungsgesellschaft Portigon alle Vermögensgüter verkaufen muss, heißt das: Wenn sich kein wohlhabender Samariter findet, wird das Land selbst viel Geld in die Hand nehmen müssen. Geld, das in NRW bekanntermaßen keiner hat. Allein 2014 nahm das Land 2,4 Milliarden Euro neue Schulden auf.





In München ist die Situation umgekehrt. Geld wäre genug da, aus der Perspektive des Ruhrgebiets würde man sagen: Da hat jemand seine Einnahmen nicht im Griff.
1,3 Milliarden Euro Überschuss erzielte das Land allein 2014, im Jahr zuvor waren es sogar 2,5 Milliarden. Die Schuldenfreiheit ist nur noch einen Haushaltsentwurf entfernt.
Dennoch wird eisern weiter gespart: Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) und der Münchner Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) beschlossen in dieser Woche, dass in München doch kein neuer Konzertsaal gebaut wird, obwohl die Bürger der Stadt diesen seit Jahren ersehnen.
Stattdessen soll der marode Gasteig renoviert werden, den die meisten Besucher und Fachleute schon heute für viel zu klein halten – gerade angesichts der zwei Spitzenorchester, die in München Spielstätten brauchen. Dass sich Stadtoberhaupt Reiter sich darauf einlässt, liegt allein am Geld. Denn das Land verpflichtet sich, große Teile der Sanierungskosten am Gasteig zu übernehmen.





Die beiden Entscheidungen haben rein gar nichts miteinander zu tun. Dennoch markieren sie zwei entgegengesetzte Antworten auf die Frage, wie weit man bei der Entschuldung öffentlicher Haushalt gehen muss.
Die Haushaltssanierer sagen: Wir brauchen erst den gesunden Staatshaushalt, um selbstbestimmt über unser Geld verfügen zu können. Die Marmorsteinfreunde sagen: Wir dürfen uns von der Finanzlage nicht die Politik bestimmen lassen.
Letztere hatten es schwer in den vergangenen Jahren, zu offensichtlich schien die Realität den Sanierern Recht zu geben. Die schuldengeplagten südeuropäischen Länder darben, während Deutschland als eine Insel des ewigen Wachstums erscheint, seitdem wir uns aufgemacht haben in Richtung Schuldenfreiheit.
Auch innerhalb Deutschlands setzt sich dieser Gegensatz fort. Bayern ist fast schuldenfrei, Bayern blüht. Täglich neue Nachrichten über Konzerne, die sich in und um München ansiedeln, Arbeitsplätze im Überfluss. Im Ruhrgebiet hingegen schließen auch die letzten Fabriken, die es noch gibt.
Gestern war Duisburg, morgen ist Dingolfing. Und waren Sie schon mal in Bremen?





Umso interessanter war die Debatte, die in den vergangenen Wochen die nordrhein-westfälische Öffentlichkeit beschäftigt hat. Denn eigentlich hatte man sich auch hier längst darauf geeinigt, dem süddeutschen Muster nachzueifern.
Bei keiner Gelegenheit lassen es Finanzminister und Ministerpräsidentin aus, auf das Ziel Haushaltsausgleich 2020 hinzuweisen – auch wenn der Erfolg noch überschaubar ist. Als dann aber die besagten Warhols verkauft wurden, ging eine Welle der Empörung durchs Land.
Dabei hatte die Landestochter Westspiel hier ein ziemlich gutes Geschäft gemacht: Ende der Siebzigerjahre für 185.000 Mark gekauft, brachten die Bilder nun in New York 120 Millionen Euro ein. Dennoch waren sich die meisten Kommentatoren und Politiker einig: Das darf nie wieder vorkommen.
Sich um die Schätze der Portigon zu sorgen, war da nur der nächste logische Schritt. Damit hat die Schuldendebatte eine neue Facette bekommen, die in dieser Woche auch Bayern erreicht. Selbst wenn man das Ziel der Schuldenfreiheit an sich gutheißt, muss es nicht Grenzen geben?
Die Reaktion in München zumindest ähnelt in ihrer Fassungslosigkeit der in Düsseldorf. Kulturschaffende rufen zu Protesten auf, die Opposition spricht von Wortbruch und die Kompetenz des Oberbürgermeisters wird offen in Zweifel gezogen.
Langsam scheint in Deutschland eine Rückwärtsbewegung an Schwung zu gewinnen: Wir wollen die öffentlichen Schulden reduzieren, aber nicht um jeden Preis.
Letztlich ist es eine Frage der Perspektive, die hier ausgetragen wird. Vergleicht man die Konsequenzen der beiden Entscheidungen, dann spricht vieles dafür, dass sie Bayern in ein paar Jahren noch ein bisschen reicher machen und Nordrhein-Westfalen noch ein bisschen verschuldeter.
Weitet man den Blick aber über die Jahrzehnte, dann sieht man, das Schulden historisch immer ein ziemlich relativer Begriff waren. Auf die erste Generation ohne Schuldenschnitt wartet Europa bis heute vergeblich. Die berauschenden Kunstschätze von Florenz und die Scala von Mailand hingegen haben Jahrhunderte von Weichwährungen, ungedeckten Schuldverschreibungen und Bankpleiten überlebt.
Sicher, in the long run we are all dead. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass unsere Nachfahren unsere Kunstschätze erben, ist am Ende größer als die, dass all die Schulden dann überhaupt noch da sind.