Mieter-Republik Deutschland Wie sich die Deutschen selbst enteignen

Nullzinsen: Viele Deutsche merken nicht einmal, wie viel Geld sie schleichend verlieren Quelle: iStock

Jeder zweite Deutsche wohnt zur Miete. Dabei ist es überall sinnvoller, eine Immobilie zu kaufen, wie eine neue Studie zeigt. Durch ihre Miet- und Spar-Liebe tragen die Deutschen zu ihrer eigenen Enteignung bei.

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Eigentlich ist es längst eine Binse: Niedrigzinsen sind schlecht für Sparer. Wer sich verschuldet, profitiert hingegen. Was liegt also näher, als das Ersparte jetzt in den Konsum zu stecken, klassischerweise in etwas Teures, möglichst Wertstabiles, also bevorzugt in eine Immobilie?

Auf dem Papier sollte das längst jedem klar sein. Allein: Die Deutschen handeln nicht danach. Bis heute wohnt nur etwa jeder zweite Deutsche im eigenen Heim. Das ist der niedrigste Wert in ganz Europa. Während also verschuldete Immobilienkäufer in ganz Europa seit Jahren von der EZB-Politik profitieren, werden bei den Deutschen die Sparkonten immer dünner.

Und dieser Trend wird wohl noch länger anhalten, als die meisten Experten ursprünglich dachten. Selbst die optimistischsten Beobachter glauben nicht an eine Zinswende vor Ende 2020, Pessimisten gehen von bis zu weiteren zehn Jahren Niedrigzinsen aus.

Oder besser gesagt: Nullzinsen. Selbst das Wort Niedrigzinsen wirkt zu freundlich angesichts eines Umfelds, in dem die meisten Tagesgeld- und Festgeldkonten 0,01 Prozent an Zinsen bringen. Also faktisch eben null Zinsen.

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Auf der anderen Seite stehen historisch niedrige Bauzinsen. Wer einen Immobilienkredit mit zehn Prozent Eigenkapital und zehn Jahren Zinsbindung aufnimmt, kommt in der Regel mit einem Zins von etwa 1,5 Prozent davon. Selbst bei 10 Jahren sind es kaum mehr als zwei Prozent. Im Vergleich zu früher ist der Kredit nahezu geschenkt.

Das belegen auch Zahlen aus der neuen Studie „Wohnen in Deutschland 2019“, die das IW Köln im Auftrag der Sparda-Banken erstellt hat und die am heutigen Freitag veröffentlicht wird. Demnach zahlt ein durchschnittlicher Immobilienkäufer heute etwa 72.500 Euro weniger Bauzinsen als noch vor zehn Jahren.

Theoretisch scheint den Deutschen das auch bewusst zu sein, wie die Studie weiter zeigt: Nur zwölf Prozent geben demnach an, dass sich der Kauf einer Immobilie nicht lohnt. Drei von vier Befragten sind zudem überzeugt, dass Immobilien eine gute Altersvorsorge seien. Nur scheinen sich diese theoretischen Überzeugen bei den meisten Deutschen nicht in Handlungen niederzuschlagen.

Wenn die Deutschen also „enteignet“ werden, wie empörte Zentralbank-Kritiker immer wieder rufen, so tragen sie daran zumindest eine Mitschuld. Die Deutschen enteignen sich quasi selbst – oder versuchen zumindest kaum, sich dagegen zu wehren.

Wie ist es anders erklärbar, dass die beliebteste Anlageform der Deutschen laut Comdirekt Spar- und Anlageindex konstant das Girokonto ist? Gefolgt übrigens von Sparbuch, Tagesgeld und Bargeld, also ähnlich zinsträchtigen Anlagemodellen. Dabei ist die Börse derzeit der einzige Ort abseits des Immobilienmarkets, wo sich Rendite erzielen lässt.

Immerhin steigt die Zahl der Aktienbesitzer langsam an: Wie das Deutsche Aktieninstitut (DAI) zuletzt jubelnd verkündete, gab es 2018 über zehn Millionen Aktien- und Fondsbesitzer. Das ist der höchste Wert seit der Finanzkrise 2007.

Zur Wahrheit gehört aber auch, dass fünf von sechs Erwachsenen die Börse damit immer noch ignorieren. Und dass Aktien nach wie vor ein Phänomen für überdurchschnittlich alte, überdurchschnittlich wohlhabende Menschen sind. Fast ein Drittel aller Aktienbesitzer ist laut DAI über 60 Jahre alt. Ebenfalls knapp jeder dritte stammt aus der – höchsten vom DAI erhobenen – Einkommensklasse von über 4000 Euro netto pro Haushalt.

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Ähnliches gilt für Immobilien. Punkt Alter: Fast 60 Prozent der 55- bis 75-Jährigen besitzt ein Eigenheim, aber nur zwölf Prozent der Unter-35-Jährigen. Punkt Vermögen: Im Bereich der 20 Prozent der höchsten Vermögen haben laut Bundesbank-Statistik knapp neun von zehn Menschen ein Eigenheim. Bei den unteren 40 Prozent ist es nur jeder Zwanzigste.

Heißt, grob vereinfacht: Wer schon viel Geld hat, lässt sich weniger durch Niedrigzinsen enteignen. Und das umso weniger, je älter er ist. Dann trifft ein über die Zeit angehäuftes Vermögen auf Erfahrung.

Doch nicht nur Berufseinsteiger scheinen der Nullzins-Wucht weitestgehend arglos zu begegnen. Auch der Mittelbau der Gesellschaft – die mittelalten Mittelverdiener – bleibt weitestgehend passiv. Er hat nur selten Aktien, dafür gerne klassische Sparkonten.

Und er hat sich offenbar an die Niedrigzinsen gewöhnt. Darauf deutet zumindest das Vermögensbarometer der Sparkassen hin. Demnach machten sich 2018 nur noch 32 Prozent der Deutschen wegen der Zentralbank-Politik sorgen um ihr Erspartes. In den Jahren zuvor waren es noch bis zu 60 Prozent gewesen. Und der Wert fällt umso höher aus, je mehr Vermögen die Befragten haben. Heißt im Umkehrschluss: Gering- und Mittelverdiener scheinen kapituliert zu haben.

Nun erfordert der Kampf gegen die Minizinsen freilich auch mehr Energie als ein Sparbuch, zumindest beim Immobilien-Erwerb. Zum einen ist das Thema deutlich komplizierter. Zum anderen schrecken die hohen Preise viele Deutsche ab. Wer nicht gerade im Kyffhäuserkreis ein Häuschen kaufen will, der muss zum Teil sehr tief in die Tasche greifen.

Trotzdem, so hat das IW Köln für die Wohn-Studie der Sparda-Banken errechnet, ist es derzeit überall in Deutschland günstiger zu kaufen als zu mieten. Selbst in den überteuerten Großstädten. Vor einigen Wochen hat auch die WirtschaftsWoche in einer großen Titelgeschichte analysiert, wo in welchen Großstädten sich der Immobilienkauf lohnt. (Die komplette Geschichte finden Sie hier.) Das Ergebnis war aufgrund einer anderen Methodik etwas verhaltener, aber auch hier lohnt sich der Kauf häufiger als die Miete.

Wer also irgendwo noch ein wenig Geld zusammenkratzen kann, sollte den Weg zur Depotbank oder zum Immobilienfinanzierer wagen. Zumindest die Nebenkosten sollten beim Immobilienkauf jedoch stets aus eigener Tasche bezahlt werden. Die durchschnittliche Immobilie kostete 2018 laut der neuen Wohn-Studie der Sparda-Banken 264.000 Euro. Je nach Bundesland kämen hier zwischen 24.000 und 41.000 Euro an Nebenkosten zusammen.

Für den Großteil der Deutschen wäre eine Immobilie damit laut Daten der Bundesbank erschwinglich: Das mittlere Vermögen pro Haushalt lag bei der letzten Erhebung bei gut 54.000 Euro.

Im Umkehrschluss bedeutet das aber freilich auch, dass Millionen Deutsche zu wenig Geld haben, um einen Immobilienerwerb zu stemmen. Laut Bundesbank-Daten verfügen die unteren 40 Prozent der Deutschen über kein nennenswertes Vermögen, das heißt in der Regel weniger als 10.000 Euro.

In Hinblick auf die Altersvorsorge ist das tragisch. Doch es hat auch eine positive, wenngleich leicht zynisch anmutende Kehrseite: Wer kein Sparvermögen hat, kann auch nicht durch Niedrigzinsen enteignet werden.

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