Ein dunkelgrüner Metallzaun, mannshoch und im Fokus zahlreicher Videokameras, schirmt die Wohnsiedlung der Bundesrepublik Deutschland am Prospekt Wernadskowo vor Moskaus Alltag ab. Hier herrschte lange Zeit eine sonderbare Ordnung: Es galt die Straßenverkehrsordnung, jeder grüßte jeden, der deutsche Bäcker lieferte Brötchen an die Tür, und abends spülten Expats, Lehrer und Diplomaten im „deutschen Eck“ die Nürnberger Würstchen mit Weißbier herunter.
Doch die Idylle ist bedroht, der Mieten wegen. Denn während diese in Moskau infolge der Wirtschaftskrise allerorts sinken, geschieht im „deutschen Dorf“ das Gegenteil: Die Mieten sollen steigen – obwohl die meisten Mieter, in Euro gerechnet, ohnehin doppelt so viel zahlen wie die Russen in gehobenen Wohnlagen rundherum. Mietsenkungen lehnt der Vermieter stoisch ab. Der heißt Bundesrepublik Deutschland und widersetzt sich mit teil absurden Argumenten der Logiken des Moskauer Mietmarktes.
Frank Schauff sitzt deshalb nun jeden Abend in seinem Apartment und wälzt Wohnungsanzeigen, er druckt Angebote für Wohnungen in der Nachbarschaft aus und heftet sie sauber in einen schwarzen Ordner. „Ich schaue nach Neubauten mit ähnlicher oder besserer Ausstattung“, sagt er. In manchen Wohnungen gebe es oft sogar vergoldete Wasserhähne. Draußen belaufe sich die Miete aktuell im Schnitt auf 13,50 Euro pro Quadratmeter, ohne Strom. Er zahlt 21,50 Euro warm, insgesamt 3867 Euro für 180 Quadratmeter. „Bei Vertragsabschluss Mitte 2011 war das Marktlage“, gibt Schauff zu, damals gab es keine Wirtschaftskrise. Doch seit Russland die Krim annektierte und anschließend der Ölpreis kollabierte, ist der Rubel zum Euro nur noch halb so viel wert.
Eigentlich hat Schauff Besseres zu tun, als abends Aktenordner zu mästen. Als Geschäftsführer eines Unternehmerverbands kümmert er sich um die Interessen europäischer Unternehmen, die die Regulierungswut russischer Bürokraten bisweilen in Verzweiflung treibt. Dem deutschen Beamtenkorps, sagt Schauff, hätte er mehr Sinn für Marktwirtschaft zugetraut.
Zumal dem Vermieter die aktuelle Wuchermiete offenbar nicht genügt: Laut bundesbehördlichem Staffelmietvertrag erhöht sich seine Miete alle drei Jahre um 20 Prozent. Vergangenes Jahr setzte der Bund die „Anpassung“ aus, zu Beginn des Jahres forderte die Behörde aber erneut eine Erhöhung um 772,25 Euro.
Schauff hat die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (BImA) verklagt – erfolglos in erster Instanz. Sein Anwalt Robert Schulze hatte nicht den Eindruck, dass die Bonner Amtsrichter die Muße hatten, sich mit dem Moskauer Mietmarkt auseinanderzusetzen. Er ging in Berufung, Runde zwei folgt bald.
Größte Liegenschaft der Bundesrepublik außerhalb der EU
Vor Schauff sind schon einige Nachbarn an den Bonner Beamten verzweifelt. Rund 60 Mieter verfassten eine Petition für Mietsenkungen. Drei Monate später kam ein Brief. Die Liegenschaft biete „aufgrund der außergewöhnlichen Ausstattung“, der Nähe zur deutschen Schule und hoher Sicherheitsstandards „überaus hohen Wohnwert“ für deutsche Bürger. Eine Absenkung der Mieten sei „derzeit nicht angezeigt“, ist darin zu lesen. Mit freundlichen Grüßen.
Lange Zeit war das „deutsche Dorf“ eine Goldgrube für die Bonner Bundesanstalt. Mit 380 Wohnungen die mit Abstand größte Liegenschaft der Bundesrepublik außerhalb der EU. Bis vor drei Jahren gab es praktisch keinen Leerstand, Interessenten mussten sich in Wartelisten eintragen. 2015 kam es plötzlich zu 118 Kündigungen, so berichten die Vermieter – 18 Prozent der Wohnungen stehen leer. An den Euro-Mieten will das BImA trotzdem festhalten. Man sei bemüht, durch „laufende Investitionen in die Bausubstanz“ und „weitere Optimierung der Sicherheits- und Servicestandards“ die Attraktivität zu erhöhen.
Mittlerweile sind Nachbarn zu Gast in der Wohnung von Frank Schauff. „Schauen Sie sich um“, sagt einer und zeigt aus dem Fenster: „Das ist einfachste Platte!“ Die Küche sei „von anno dazumal“, Bäder „eine Katastrophe“. Auch André Scholz ist gekommen. Der Initiator der Mieter-Petition lebt als Wirtschaftsprüfer seit 13 Jahren in Moskau. Er glaubt, dass allenfalls die Nähe zu deutscher Schule und Kindergarten verhindere, dass sich noch mehr Mieter von überhöhten Mieten in die Flucht schlagen lassen.
Zumal sich das „deutsche Dorf“ in den vergangenen Jahren verändert hat; zum Negativen, sagen die Bewohner. Als Erstes ging der Metzger pleite, dann gab es plötzlich auch den deutschen Bäcker nicht mehr.
Das Deutsche Eck ist eine Dorfkneipe mit rustikaler und dennoch moderner Einrichtung. Überall harren Flachbildfernseher der Gäste, die allenfalls zum Fußball beide Schankräume füllen. Im Nichtraucherraum speist ein Russe, ohne den Bayernhut abzunehmen, im Raucherraum qualmt Hubert Willms vor dem Aquarium, in dem ein mürrischer Karpfen schwimmt.
Willms bestellt sich ein Glas Cola und kippt sich einen Wodka hinein. Fröhlich ist er dennoch nicht. Das war er früher mal, als das Geschäft noch lief. Der Aachener ist selbstständiger Messebauer und bastelt seit 27 Jahren die Stände für Bundesagenturen, die in Russland ausstellen. Früher war er oft monatelang in Russland, heute nur wochenweise.
Aus Gewohnheit mietet er sich im „deutschen Dorf“ ein Hotelzimmer – und sagt: „Das Preis-Leistungs-Verhältnis stimmt hier überhaupt nicht mehr.“ Aber an wen solle er sich wenden? „Das gehört ja alles dem deutschen Staat, und der stellt sich stur.“ Es dauert nicht lange, bis er über Wladimir Putin und dessen Wirtschaftspolitik schimpft, über korrupte Messebetreiber, die Armut da draußen.
Bald wird es selbst das Eck nicht mehr geben: Der Pächter soll gekündigt haben – sicher auch der Miete wegen. Und so stirbt es langsam aus, das „deutsche Dorf“ von Moskau. Wohl auch, da die Beamten in Bonn die Marktlage der postsowjetischen Realität jenseits des dunkelgrünen Zauns nicht respektieren wollen.