Wo Familien wohnen wollen „Wer sich gesellschaftlich abschottet, wird auch wirtschaftlich verlieren“

Ländliche Gemeinden haben mit Einwohnerschwund zu kämpfen, weil junge Familien ins Umland der Großstädte ziehen. Quelle: dpa

Gemeinden im Speckgürtel der Großstädte müssen mehr tun, um Familien anzulocken, fordert der Sozialanthropologe Wolfgang Kaschuba. Anderenfalls drohe der gesellschaftliche und wirtschaftliche Stillstand.

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Wolfgang Kaschuba ist Geschäftsführender Direktor des Instituts für empirische Migrations- und Integrationsforschung an der Berliner Humboldt-Universität. Zudem ist er Vorstandsmitglied der Deutschen Unesco-Kommission. 

WirtschaftsWoche: Herr Professor Kaschuba, was außer Mieten und Kaufpreisen bewegt Familien, sich auf dem Lande oder in der Stadt niederzulassen?
Wolfgang Kaschuba: Die Frage unterstellt, dass die Betroffenen überhaupt eine Wahl haben. Meist sind es aber ganz praktische Zwänge, die über den Wohnort entscheiden. Dazu gehört etwa die Verkehrsanbindung für den Weg zur Arbeit. Wenn Familien wählen können, dann ist jungen Menschen vor allem Diversität in der Nachbarschaft wichtig.

Können Sie das näher erklären?
In vielen ländlichen Gemeinden sind die Gesellschaften sehr homogen, weil die jungen Menschen weggezogen sind. In den ländlichen Regionen Sachsens beispielsweise sind seit der Wiedervereinigung rund eine Million Menschen weggezogen. Zurück bleiben die älteren Bewohner und junge Männer, die in der Stadt keine Arbeit finden. Junge, gut ausgebildete Frauen flüchten dagegen vor der sozialen Kontrolle durch Familie und Nachbarn in die Stadt.

Was hat das für Folgen?
Der politische Mainstream ist dann sehr konservativ. In Sachsen etwa ist das deutlich an den Wahlergebnissen abzulesen. Von der Mehrheit abweichende Lebensentwürfe werden selten toleriert. In der Stadt und in Teilen des Umlands ist die Vielfalt dagegen größer. 

Was heißt das für die Entscheidung bezüglich des Wohnorts?
Familien werden sich nur dort für ein Leben auf dem Lande entscheiden, wo die Gesellschaft in Bewegung ist, wo es Zuzug und eine gewisse Offenheit für Neues gibt. Im Umland von Berlin beispielsweise gibt es einige kleinere Kommunen, die sich um Neubürger bemühen, damit sie nicht abgehängt werden. Wer sich dagegen gesellschaftlich abschottet, wird auch wirtschaftlich verlieren.

Der Speckgürtel verändert sich auch?
Nehmen Sie eine Gemeinde wie Oranienburg. Kurz nach der Wende war dies ein ländlicher Vorort. Inzwischen hat sich die Gemeinde zusehends verstädtert. Menschen, die das gemütliche Leben auf dem Lande bevorzugen, dürfte es dort schon zu hektisch sein. Für Familien dagegen, die eine gute Infrastruktur und gesellschaftliche Vielfalt suchen, ist Oranienburg attraktiver geworden. 

Der jüngeren Generation wird oft vorgeworfen, sie sei nachbarschaftlich nicht mehr engagiert und bevorzuge daher die Anonymität der Großstadt.
Das ist so nicht richtig. Junge Menschen wollen sich als Bewohner auch in kleineren Gemeinden engagieren. Allerdings geht es ihnen um neue Spielregeln, die eben nicht in der Vereinsmeierei der älteren Generation verhaftet sind. Sie bevorzugen eigene Lebensentwürfe und wollen nicht die ihrer Eltern kopieren.

Die Coronapandemie hat viele Arbeitnehmer zwangsweise ins Homeoffice geschickt. Wird Arbeiten auf dem Lande damit hoffähig?
Ich bin mir nicht sicher, ob die Corona-Effekte so nachhaltig sein werden und alle in die gleiche Richtung gehen. Ältere Menschen beispielsweise werden sich überlegen, ob sie wirklich auf dem Lande mit einer schlechteren Gesundheitsinfrastruktur leben wollen. Schließlich hat die Pandemie ihnen vor Augen geführt, wie wichtig eine ärztliche Versorgung vor Ort ist. Wer zehn oder mehr Kilometer bis zur nächsten Apotheke braucht, wird sich vielleicht in der Stadt besser aufgehoben fühlen. Andererseits treffen die Corona-Beschränkungen vor allem die Großstädte. Auf dem Lande können sich die Menschen dagegen freier bewegen, weil es dort leichter ist, Abstand zu halten. 

Wie werden sich die Wanderungsströme nach Corona entwickeln?
Durchgreifende Veränderungen sind nicht zu erwarten. Jüngere Menschen und Familien werden meist eine sozial offene und kulturell vielfältige Gesellschaft vorziehen. Und die finden sie vornehmlich in der Stadt und dem Speckgürtel.

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