WirtschaftsWoche: Herr Tilp, Sie vertreten den Musterkläger im Verfahren von 17.000 Anlegern gegen die Deutsche Telekom. Vergangene Woche urteilte der Bundesgerichtshof (BGH), dass der Börsenprospekt der Telekom zum Dritten Börsengang fehlerhaft war, Ihr Kläger bekam Recht. Macht Sie das stolz?
Andreas Tilp: Sicher, schließlich haben wir den Telekom-Prozess angestrengt und sind als einzige Musterklägerkanzlei überhaupt stellvertretend für 17.000 klagende Telekom-Aktionäre vor Gericht gezogen. Dass wir jetzt nach sechs Jahren Recht bekommen, ist ein wichtiger Erfolg.
Zur Person
Andreas Tilp ist Anlegeranwalt und hat eine Kanzlei in Tübingen. Er ist insbesondere als Anwalt der Musterkläger gegen die Deutsche Telekom und die verstaatlichte Krisenbank Hypo Real Estate bekannt. Er gilt als führender Experte für das Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz und war an der Reform des Gesetzes als staatlich bestellter Sachverständiger beteiligt.
Eigens für die klagenden Telekom-Aktionäre wurde 2005 das Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz, kurz KapMuG, erlassen, um Massenklagen durch Musterverfahren zu vereinfachen. Finden Sie, die Musterverfahren funktionieren?
Ohne unsere Kanzlei hätte es das KapMuG nicht gegeben. Ich finde die Idee nach wie vor sehr gut. So kann ein einzelner Kläger – in der Regel derjenige mit dem höchsten Verlust – stellvertretend für alle anderen Kläger wichtige Sachverhalts- und Rechtsfragen vor Gericht klären. Der Beschluss des BGH hat Bindungswirkung und gewährleistet, dass nun das Oberlandesgericht und später das Landgericht nicht über jeden Einzelfall anders entscheiden. Mittlerweile laufen knapp zwanzig KapMuG-Verfahren, unter anderem gegen Daimler und Hypo Real Estate.
In der Praxis hat es aber sehr lange gedauert, bis das Musterverfahren nun zum Abschluss kommt und die vielen Anlegerklagen abschließend verhandelt werden können. Wo ist da die Entlastung für Justiz und die Kläger?
Im Musterverfahren gegen die Telekom hat es länger gedauert, als zunächst gedacht. 2003 endete die Verjährungsfrist für Anlegerklagen , die sich beim Dritten Börsengang der Telekom im Jahr 2000 getäuscht fühlten. 2005 verabschiedete die Regierung das KapMuG. Verfahrensbeginn war erst 2008. Dass es danach sechs Jahre bis zum BGH-Beschluss gedauert hat, ist aber nicht allzu lang. Das Problem liegt nicht im Musterverfahren begründet, sondern in der Tatsache, dass es beim Oberlandesgericht in Frankfurt nur einen Richtersenat gibt, der KapMuG-Verfahren verhandelt. Dort sind viele Zivilverfahren anhängig - das Gericht ist einfach überlastet.
Hierzulande sind Musterverfahren noch juristisches Neuland. In den USA sind sie hingegen längst üblich. Dort kommt es viel schneller zu Urteilen.
Deutschland wollte dem amerikanischen Vorbild nicht folgen. Dort kommt es in Sammelklagen von Anlegern häufig zu einem Vergleich. Der ist dann aber für alle Kläger bindend, das heißt, die Schadenersatzhöhe wird nach dem Vergleich für die übrigen Kläger nicht mehr individuell verhandelt. Dort sind die Verfahren oftmals schon nach drei Jahren abgeschlossen. Die Einzelfallgerechtigkeit bleibt jedoch häufig auf der Strecke. Deshalb hat sich Deutschland für einen eigenen Verfahrensweg entschieden.
"Die Prospekthaftung ist das schärfste Schwert in Anlegerprozessen"
Ein Vergleich im Rahmen eines Musterverfahrens vor einem deutschen Gericht würde also nichts bringen, weil trotzdem mit jedem Kläger einzeln ein Vergleich erreicht werden muss?
Nein, auch das KapMuG erlaubt zwischenzeitlich Vergleiche. In einem kleinen Verfahren gegen Constantin Medien, die frühere EM.TV, hat das auch schon stattgefunden. Der Vergleich ist aber nur dann allgemeingültig, wenn weniger als 30 Prozent widersprechen. Der Telekom würde ich nach dem BGH-Urteil einen Gesamtvergleich empfehlen. Sonst muss sie in 2.700 Prozessen gegen mehr als 900 Anwaltskanzleien antreten.
Die wichtigsten Fakten zum Telekom-Urteil
Es geht um die Beteiligung der Deutschen Telekom an der US-Telekommunikationsfirma Sprint Corporation, die im Jahr 1999 perspektivisch an die MCI World verkauft werden sollte. Zuvor wurde die Beteiligung aber an die Telekom-eigene NAB Nordamerika Beteiligungs-Holding aus Bonn übertragen. In der Konzernbilanz für das Geschäftsjahr 1999 tauchte damit ein Buchgewinn von 8,2 Milliarden Euro auf, ohne das klar wurde, dass die Telekom weiterhin das volle Risiko für die nur „umgehängte“ Sprint-Beteiligung trug. Im Börsenprospekt fehlen laut BGH jegliche Hinweise zur NAB-Holding. Selbst ein bilanzkundiger Anleger konnte die tatsächlichen Beteiligungsverhältnisse nicht erkennen, folgern die Bundesrichter.
Die Telekom-Bilanz 1999 und damit die entscheidende Grundlage des Verkaufsprospekts zum dritten Börsengang wurde mit Sprint um mehrere Milliarden Euro geschönt. Später stellte sich zudem heraus, dass der Buchgewinn weit überhöht angesetzt war, denn beim tatsächlich erfolgten Verkauf im Jahr 2001 zahlte MCI World für Sprint nur rund 3,4 Milliarden Euro.
Der BGH hat zwar endgültig festgestellt, dass der Prospekt in der Sprint-Frage falsch war. Doch es bleibt offen, ob die Telekom dafür verantwortlich ist, also die Frage nach dem Verschulden. Ebenfalls ungeklärt ist die juristische „Kausalität“. Dahinter verbirgt sich die Frage, ob die Anleger bei der Aktie auch zugegriffen hätten, wenn sie die wahren Umstände zum Sprint-Geschäft gekannt hätten. Über beide Themen hat der OLG-Senat als erste Instanz noch nicht entschieden, weil er - anders als der BGH - keinen Prospektfehler erkannt hatte. Das muss er nun nachholen.
Rein gar nichts, versichert Anwältin Petra Dietmaier vom Büro Tilp, das die Musterklage geführt hat. Das Oberlandesgericht wird nun einen neuen Termin zur Klärung der noch offenen Fragen ansetzen. Gegen diese Entscheidung ist dann auch noch mal Rechtsbeschwerde beim BGH möglich. Erst dann steht wirklich fest, ob die Telekom tatsächlich 80 Millionen Euro Schadenersatz zahlen muss.
„Das kann man nicht seriös beantworten“, sagt Arne Hasse, Sprecher des Landgerichts Frankfurt, das letztendlich jeden einzelnen Fall ausurteilen muss, nachdem der BGH sein letztes Wort gesprochen hat. „Jeder Fall ist dann noch einmal gesondert zu betrachten“, sagt der Justizsprecher. Eine einzelne Kammer wäre mit rund 2700 Fällen und 17 000 Klägern schlichtweg überfordert, ohne interne Umorganisationen ist das wohl nicht zu schaffen. In Gerichtskreisen ist daher von mehreren Jahren die Rede, bis das letzte Telekom-Verfahren in Frankfurt abgeschlossen ist. Wohlgemerkt nach dem letzten BGH-Spruch.
Sicher nicht, wenn man allein die bislang aufgelaufene Zeit zwischen den ersten Klagen aus dem Jahr 2001 bis heute sieht. Die untere Instanz wurde durch die Vorlage der Schlüsselfragen beim OLG zwar zunächst entlastet, muss aber irgendwann die große Masse der Telekomfälle doch abarbeiten. Sollte die Telekom nicht vorher einlenken, wonach es im Moment nicht aussieht, müssen die geschädigten Anleger noch sehr lange auf ihr Geld warten.
Ist es realistisch, dass die Telekom klein beigibt?
Wenn die Telekom es drauf anlegen würde, könnte sie das Verfahren noch um Jahre hinauszögern. Ob ihr das etwas nützen würde, bezweifele ich aber. Schon wegen der öffentlichen Wirkung: Laut BGH hat die Deutsche Telekom beim Dritten Börsengang in ihrem Börsenprospekt ihre Beteiligungsverhältnisse an Sprint – Zitat – verschleiert. Verschleiern kann man aber nicht fahrlässig, sondern mindestens grob fahrlässig oder gar vorsätzlich. Es dürfte ihr daher nicht gelingen, auf einfache Fahrlässigkeit zu plädieren. Ein zügiges Abschließen der Anlegerprozesse müsste eigentlich in ihrem Sinne sein.
Sie glauben nicht, dass die Telekom sich weiter gegen Schadenersatz sperrt?
Die Prospekthaftung ist das schärfste Schwert in Anlegerprozessen. Ich gehe davon aus, dass das OLG bis Ende 2015 feststellt, dass die Telekom schuldhaft gehandelt hat und auch beurteilt, ob eine Kausalität zwischen dem falschen Börsenprospekt und den Käufen der T-Aktie durch die Kläger besteht, etwa durch Beeinflussung der Anlagestimmung am Markt. Beides - Verschulden und Kausalität - wird vom Gesetz zu Lasten der Telekom im Rahmen einer Beweislastumkehr vermutet. Bejaht das OLG dies, sind Schadenersatzzahlungen an die Anleger nicht mehr zu verhindern. Dann wäre eine Verzögerungstaktik eher schädlich. Mit den Verzugszinsen von fünf Prozent über Basiszins jährlich seit 2003, die die Telekom auf den zu entstandenen Schaden zu zahlen hat, wird es nur immer teurer. Schon heute übersteigen die Verzugszinsen die eingeklagte Schadensumme.
Wie geht es für die Kläger nach der OLG-Entscheidung weiter?
Danach geht es für die 17.000 klagenden Anleger deutlich schneller. Sie müssen dann nicht einmal nachweisen, dass sie den Börsenprospekt überhaupt gelesen haben. Sie können direkt von dem zuständigen Landesgericht den Schadenersatz von der Deutschen Telekom zusprechen lassen. Sollte die Telekom allerdings erneut den BGH anrufen, würden sich die Verfahren weiter verzögern. Dann wäre wohl erst 2018 mit ersten Zahlungen an die Kläger zu rechnen.