Es sind dramatische Nachrichten, die aus dem Nachbarland nach Deutschland dringen: Bei der Versorgung von Coronapatienten drohen die Kliniken zu überlasten. Es müssten, so warnte der dortige Gesundheitsminister, bereits Entscheidungen darüber getroffen werden, welcher Patient mehr Überlebenschancen habe.
So weit scheint dieses Szenario auch in Deutschland nicht mehr entfernt: Es gebe längst eine Art von Triage in den Kliniken, heißt es etwa von der Krankenhausgesellschaft. Der Zustrom an Patienten im Zuge der vierten Coronawelle ist für viele Krankenhäuser kaum mehr zu bewältigen.
Für Krebskranke und manche andere Patienten, die auf ihre geplanten Operationen warten, wird es zusehends dramatischer: 20 Prozent der Eingriffe bei Darmkrebspatienten beispielsweise werden verschoben und auch Kandidaten für orthopädische Operationen müssen mehrere Monate auf neue Termine warten, sagt Gerald Graß, der Chef der Deutschen Krankenhausgesellschaft. Die Versorgung der Notfälle wie Schlaganfall- oder Herzinfarktpatienten leidet, weil sie längere Fahrtzeiten zu weiter entfernten Kliniken erdulden müssen.
Und so stellt sich die Frage: Ist es schon unterlassene Hilfeleistung, womöglich gar fahrlässige Tötung, wenn Ärzte nun leidende Patienten abweisen?
Operationen abzusagen sei per se nicht strafbar, stellt Strafrechtler Jürgen Wessing klar. Ärzte müssten allerdings in solchen Fällen immer zuerst medizinisch abwägen, ob man sie verschieben kann oder ob sie überlebensnotwendig für den Patienten ist. Dazu zähle es auch zu prüfen, ob der oder die Kranke einen Transport in eine etwas weiter entfernte Kliniken vertrage.
Gerade in der aktuellen Situation sind diese Abwägungen allerdings eine Gratwanderung. „Patienten, die sich zu Unrecht abgewiesen fühlen, haben natürlich die Möglichkeit, sich zu wehren“, sagt Strafverteidiger André Szesny von der Kanzlei Heuking. „Ob allerdings eine Meldung bei der Kassenärztlichen Vereinigung, eine Schmerzensgeldklage bei Gericht oder gar eine Strafanzeige bei der Staatsanwaltschaft Erfolg versprechen, bezweifle ich.“ Zumal Patienten im Einzelfall nachweisen müssen, dass sie Notfälle waren, die der Arzt nicht ablehnen durfte.
Zwar haben Krankenhäuser wie Ärzte im deutschen Sozialversicherungssystem einen allgemeinen Versorgungsauftrag und seien allein deshalb behandlungspflichtig, erläutert Szesny. Das bedeute aber nicht, dass sie niemanden ablehnen dürften. Notfälle müssten behandelt und womöglich auch vorgezogen werden.
Ist eine Klinik voll ausgelastet und kein einziges Bett frei, gibt es auch keinen individuellen Strafvorwurf an die Ärzte, resümiert Wessing. Und Szesny ergänzt: „Niemandem kann zum Vorwurf gemacht werden, wenn er objektiv nicht in der Lage ist, Hilfe zu leisten.“
Wenn drei Covidkranke gleichzeitig Hilfe brauchen
Schwierig für die Mediziner dürfte es werden, wenn die Pandemie fortschreitet und schlimmstenfalls drei Covidkranke gleichzeitig aufgenommen werden müssten, aber nur ein Bett frei ist, sagt Wessing. Ärzte müssten „versuchen, das Leben zu retten, das die höchsten Überlebenschancen hat“. Dagegen könnten auch die Angehörigen der anderen beiden Patienten nichts unternehmen, so der Jurist. Aussicht auf eine Entschädigung hätten sie allenfalls, wenn sie den Ärzten eine Fehleinschätzung nachweisen können. Wessing vergleicht diese Situation mit einer Katastrophe. Einem Zugunglück etwa, oder einem terroristischen Anschlag. Dabei müssten sich die Sanitäter erst ein Bild von der Lage machen. Doch auch dann kommt es zu Fehleinschätzungen, für die das medizinische Personal kaum zu belangen sei: „Kippt jemand mit inneren Blutungen um, der erst tapfer sagte, es gehe ihm gut, kann man den Sanitätern auch keinen Strafvorwurf machen, wenn sie sich erst um akute Notfälle gekümmert haben“, sagt Wessing.
In die Schlagzeilen geriet erst kürzlich die Strafanzeige eines Witwers wegen der fahrlässigen Tötung seiner Frau infolge eines Hackerangriffs auf die Uniklinik Düsseldorf. Deren 30 Server waren vor einem Jahr von Cyber-Erpressern verschlüsselt worden und die Klinik konnte deshalb keine Operationen mehr durchführen. Das Klinikum hatte deshalb eine 78-jährige Frau nach einem Aorta-Anriss nicht aufgenommen, sondern weitergeschickt in ein Krankenhaus nach Wuppertal, wo sie erst eine Stunde später behandelt wurde - und verstarb.
Gutachter können die Kausalität kaum nachweisen
Der Vorwurf der Angehörigen: Hätte die Uniklinik Düsseldorf sie angenommen, hätten die Ärzte sie dort schneller und auch gezielter behandeln können. Doch die Staatsanwaltschaft stellte ihre Ermittlungen ein: Der kausale Zusammenhang zwischen Hackerangriff und dem Tod sei nicht nachweisbar. Die Verletzungen seien so erheblich gewesen, dass die Frau auch bei ihrer Einlieferung in die Uniklinik verstorben wäre, so die Staatsanwaltschaft.
Ein Nachweis ist in den seltensten Fällen möglich, weiß Anwalt Wessing. „Welcher Gutachter kann schon mit absoluter Sicherheit sagen, dass der Patient noch ein paar Tage länger gelebt hätte?“
Mehr zum Thema: Lesen Sie im Corona-Update die neuesten Entwicklungen der Pandemie.