Doppelbesteuerung Ist die Renten-Besteuerung verfassungswidrig?

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Umstrittene Definition der steuerfreien Rente

Doch die weit gefasste Definition der steuerfreien Rente ist hoch umstritten. Kritiker bemängeln, dass zum Beispiel der steuerliche Grundfreibetrag jedem Steuerzahler zusteht und gar nichts mit der Rente zu tun hat. Auch die steuerliche Absetzbarkeit der Krankenkassenbeiträge sei eine verfassungsrechtliche Vorgabe, keine Begünstigung von Rentnern. Ihrer Ansicht nach dürften diese Posten daher nicht mitgezählt werden.

Und dieser strengeren Ansicht scheinen sich nun Finanzrichter anzuschließen. So erkannte das Finanzgericht Baden-Württemberg in einem noch unveröffentlichten Urteil im konkreten Fall zwar keine verfassungswidrige Doppelbesteuerung. Viel wichtiger ist aber, wie die Richter rechneten: Denn auch sie gingen nur vom steuerfreien Rentenfreibetrag aus, multipliziert mit der statistischen Rest-Lebenserwartung (8 K 3195/16, Revision möglich). Das Finanzamt hingegen hatte in diesem konkreten Fall noch viele andere Posten der steuerfreien Rentensumme zuschlagen wollen.

Zwar ist die Entscheidung eines Finanzgerichts nicht mehr als eine Einzelfallentscheidung. Daraus kann noch keine allgemeine Richtschnur abgeleitet werden. Doch es gibt eine weitere, hochrangige Stimme: Egmont Kulosa. Der Name dürfte in der Öffentlichkeit kaum bekannt sein, Kulosa ist aber nicht irgendwer. Er arbeitet am höchsten deutschen Finanzgericht, dem Bundesfinanzhof (BFH). Dort ist er Stellvertreter des Vorsitzenden am für Alterseinkünfte und Altersvorsorge zuständigen X. Senat. Und er hat sich aktuell dem Lager zugeschlagen, das eine sehr strenge Definition der steuerfreien Rente vornimmt. So zählt er in einem aktuellen Gesetzeskommentar, neben dem steuerlichen Rentenfreibetrag, nur noch einen jährlichen Werbungskosten-Pauschbetrag von 102 Euro zur Summe der steuerfreien Renten. Alle anderen Posten – wie den Grundfreibetrag oder die Krankenkassenbeiträge – hingegen explizit nicht.

Und damit ist das Ergebnis, zu dem Kulosa kommt, eindeutig: „Es bedarf keiner komplizierten mathematischen Übungen, um bei den Angehörigen der heute mittleren Generation, die um das Jahr 2040 in den Rentenbezug eintreten werden, eine Zweifachbesteuerung nachzuweisen.“ Für alle Rentner, die bis 2015 in Rente gingen, sei eine Doppelbesteuerung noch auszuschließen. Dann aber werde es kritisch. „Spätestens wenn ganze Rentnerkohorten in die doppelte Besteuerung hineinwachsen, wird daher eine gesetzliche Neuregelung erforderlich sein“, schreibt Kulosa. Die Verfassungswidrigkeit erscheine evident. Viel deutlicher geht es nicht.

Tatsächlich ist eine unzulässige Doppelbesteuerung bei dieser strengen Definition sicher. Denn Jüngere, die erst 2040 oder danach in Rente starten, werden ihre späteren Renten komplett, also zu 100 Prozent, versteuern müssen. Ihre Rentenbeiträge zahlen sie aber noch nicht komplett aus dem unversteuerten Einkommen. Aktuell werden die Beiträge zu 88 Prozent verrechnet, bis maximal 24.305 Euro bei Alleinstehenden. Erst von 2025 an fließen die Beiträge voll aus dem unversteuerten Einkommen. Die ab 2040 startenden Rentner hätten demnach bei strengster Definition überhaupt keinen steuerfreien Rentenzufluss mehr, aber gleichzeitig bis 2025 noch Beiträge aus dem versteuerten Einkommen gezahlt.

Der Finanzmathematiker und Rentenexperte Werner Siepe setzt sich seit Jahren für eine Lösung der aus seiner Sicht unzulässigen Doppelbesteuerung ein. Er hat auch das Ausmaß des Problems beziffert: Ein 2040 neu startender Rentner müsste demnach gut 83.000 Euro zu viel versteuern, wenn er vorher 40 Jahre lang den Höchstbeitrag der gesetzlichen Rentenversicherung gezahlt hatte. Hätte er 45 Jahre lang zum Durchschnittsverdienst gearbeitet, läge die zu viel versteuerte Rentensumme noch bei 53.571 Euro. Bei 30 Prozent Grenzsteuersatz ergäbe sich so eine um 16.000 bis 25.000 Euro zu hohe Steuerlast.

Die Bundesregierung hingegen teilte noch im August mit, dass es beim Übergang zur neuen Rentenbesteuerung „praktisch keine verfassungswidrige Zweifachbesteuerung“ gebe. Zu diesem Ergebnis konnte sie nur kommen, weil sie eben eine deutlich weiter gefasste Definition der steuerfreien Rente vornimmt. Doch die scheint nach den jüngsten Äußerungen der Finanzrichter rechtlich kaum haltbar.

Zweifel hätten der Bundesregierung eigentlich schon relativ kurz nach der Steuerreform 2004 kommen können. 2007 schrieben Herbert Rische, bis März 2014 Präsident der Deutschen Rentenversicherung Bund, und der Finanzwissenschaftler Bert Rürup, der vor der Reform die Sachverständigenkommission zu dem Thema geleitet hatte, eine vertrauliche Stellungnahme an das Bundesfinanz- und Bundessozialministerium. Die Stellungnahme wurde erst 2016 bekannt, als unter anderem die WirtschaftsWoche darüber berichtete. Die beiden Experten merkten an, dass die neue Besteuerung „bei Zugrundelegung der aktuellen Rahmenbedingungen in erheblichem Umfang gegen das Verbot der Zweifachbesteuerung verstößt“. Eine Änderung des entsprechenden Gesetzes sei „erforderlich“. Doch ihr Schreiben hatte keine praktischen Konsequenzen. Es blieb bei den umstrittenen Steuerregeln.

Nun steigen die Chancen, dass diese vor Gericht gekippt werden. Für die Bundesregierung wäre das eine herbe und teure Schlappe.

Rürup ist heute für die Handelsblatt Media Group tätig, zu der auch die WirtschaftsWoche gehört.

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