
Ich bin kein Fan von Pauschalreisen. Statt den Urlaub in sterilen Bettenburgen zu verdösen, dauerbeschallt von Animateuren und plärrenden Kindern am subtropisch überhitzten Pool, schnalle ich lieber den Rucksack über und wandere im Kaukasus. Ein einziges Mal – mein viereinhalb Jahre währender Moskau-Aufenthalt war eben vorbei – gab ich dem Pauschaltourismus eine Chance und buchte bei Thomas Cook eine Reise nach Sansibar: Dem regnerischen Januar für sieben Tage und sechs Nächte an den Indischen Ozean zu entfliehen – das wäre was. Klick, gebucht, los geht’s.
Die Vorfreude auf den Urlaub endet abrupt in Halle C des Frankfurter Flughafens. Auf der Anzeigetafel steht an jenem Sonntagabend im Januar, die Maschine werde erst am kommenden Morgen starten. Der erste Strandtag wäre damit passé; statt der Landung morgens um neun wäre der Flieger erst abends auf Sansibar. Schuld daran ist Condor. Die Boeing 767 des Ferienfliegers aus Kelsterbach kann wegen eines „technischen Defekts“ vor Beginn des Frankfurter Nachtflugverbots nicht starten, heißt es. Genervt stehen sich 268 Passagiere des ausgebuchten Flugs am Check-in die Beine in den Bauch, um Koffer und Surfbretter dennoch einzuchecken. Dann stiefelt der Tross ins Sheraton-Hotel, wo es Kost und Logis für eine Nacht gibt. Ich brauche ein Bier. Kostet acht Euro extra.
Welche Rechte haben Fluggäste bei Streiks?
Wer nicht bloß einen Flug, sondern eine Pauschalreise gebucht hat, hat Ansprüche gegenüber dem Reiseveranstalter. In diesem Fall haftet also nicht die Airline an sich. Der Reiseveranstalter muss einen Ersatzflug organisieren. Schafft der das nicht, muss er die Kosten für eine alternative Anreise bezahlen. Das bedeutet: Wenn der Tourist dann auf eigene Faust den Zielort ansteuert, muss der Veranstalter die Zugfahrt oder den Flug vom nächstgelegenen Flugplatz tragen.
Das Problem bei Streiks: Wenn es nicht die Angestellten der Airline sind, die streiken, sondern Fluglotsen oder Bodenpersonal, liegt höhere Gewalt vor. Sprich: Die Fluglinie ist machtlos gegen den Streik – Touristen, die bloß einen Flug gebucht haben, gucken in die Röhre. Pauschalreisende, die wegen tage- und wochenlangen Streiks auf die Reise verzichten, können dementsprechend auch wegen höherer Gewalt von ihrem Vertrag mit dem Veranstalter zurücktreten. Verschiebt sich die Reise wegen eines Generalstreiks aber nur um ein oder zwei Tage, gilt das nicht. Hier ist lediglich eine Preisminderung möglich.
Handelt es sich nicht um einen lange vorher angekündigten Streik, sondern fällt der Flug kurzfristig aus, haben Reisende Anspruch auf Ausgleichszahlungen zwischen 250 und 600 Euro – abhängig von der Länge der Flugstrecke.
Ist der Flug wegen eines Streiks lediglich verspätet, hat der Kunde der Airline gegenüber Ansprüche. Laut europäischer Fluggastrechte-Verordnung bekommen Reisende bei Verspätungen ab zwei Stunden Getränke und Essen – meist in Form von Gutscheinen - gestellt. Hinzu kommt die Erstattung für Telefonkosten, Faxe oder E-Mails, die wegen der Verspätung vom Flughafen aus geschickt werden müssen. Falls nötig, müssen die Fluglinien auch für eine Hotelübernachtung oder den Transfer ans Ziel aufkommen. Wer nicht auf seinen verspäteten Flieger warten möchte, kann sein Geld zurückfordern. Ist der Flug Teil einer Pauschalreise, gilt das erst ab Verspätungen von vier Stunden.
Wenn am Flughafen gestreikt wird und Urlauber deshalb nicht vom Fleck kommen, muss die Fluglinie einen Ersatzflug auf die Beine stellen. Das geht aus einer EU-Verordnung für Fluggastrechte hervor. Wer auf den nicht warten möchte, darf vom Vertrag zurücktreten und sich den Flugpreis erstatten lassen. Zusätzlichen Schadensersatz für entgangene Urlaubsfreuden oder Ähnliches gibt es jedoch nicht.
Pauschalreisende, die stark verspätet in den Urlaub fliegen, können nach ihren Ferien beim Veranstalter den Reisepreis zu mindern. Bis zu fünf Prozent des Tagesreisepreises pro Verspätungsstunde dürfen zurückverlangt werden. Allerdings erst, wenn die vier Stunden-Grenze geknackt ist. Bei Pauschalreisen sind Verspätungen unterhalb der vier Stunden nämlich bloß kleine Unannehmlichkeiten.
Gestrandet am Flughafen
Jahr für Jahr stranden rund 1,3 Millionen Fluggäste auf deutschen Flughäfen. Mal ist eine Maschine kaputt, mal streikt das Boden- oder Bordpersonal, oder der Flughafen kapituliert vor Schneefällen. In den meisten Fällen haben die Passagiere ab drei Stunden Verspätung Anspruch auf eine stattliche Entschädigung. Die EU-Kommission hat das schon 2004 in einer Verordnung festschrieben. 2009 präzisierte der Europäische Gerichtshof in Luxemburg die Höhe der Entschädigungen: Bei einer Flugstrecke bis 1500 Kilometer beträgt die Pauschale 250 Euro, bei Flügen bis 3000 Kilometern sind es 400 Euro und bei Langstrecken wie der nach Sansibar werden 600 Euro fällig. Na also!
Klar, es gibt viel härtere Fälle als meinen. Doch mein Fall ist Alltag, wie mir scheint. Jeden Tag ärgern sich Fluggäste über Verspätungen und wissen nicht um verbraucherfreundliche Entschädigungen, die ihnen die viel gescholtene EU-Kommission zugesteht. Als ich mir im Sheraton-Restaurant eine Gabel mit lauwarmem Kartoffelbrei in den Mund schiebe, reift der Plan: Ich werde auf mein Recht pochen, den Kampf um Entschädigung ausfechten, notfalls vor Gericht. Und zwar, ohne mich als Journalist zu outen, sonst gibt der Gegner aus Furcht vor negativen Schlagzeilen klein bei. Der Privatkrieg gegen den Condor wird ein Jahr und zwei Monate dauern.
Auf in den Kampf!





Gleich nach meiner Rückkehr aus Sansibar starte ich die Attacke mit zwei Briefen an Condor und Thomas Cook. Der Reiseveranstalter Thomas Cook entschuldigt sich flott, sogar ausführlich – und gewährt „als Zeichen unseres Verständnisses“ einen Reisegutschein über 150 Euro. Das sind Füchse, diese Touristiker, denn mit diesem Marketingtrick generieren sie mit dem geschädigten Kunden gleich das nächste Geschäft. Ein richtiger Urlaub würde natürlich ein Vielfaches des Gutscheinwerts kosten. Natürlich lehne ich den Gutschein ab. Der Code lautet EXXSUAT3VD32XZ9F – wer mag, darf ihn gerne einlösen. Ich buche nicht mehr bei Thomas Cook.
Eine Entschädigung per Gutschein sieht keine EU-Verordnung vor. Sitzen gelassenen Passagieren steht ein Schadensersatz in bar zu. Damit konfrontiere ich Condor, ein Tochterunternehmen des scheinbar großzügigen Reiseveranstalters Thomas Cook. Die Airline muss nach EuGH-Urteilen mit den Aktenzeichen C-402/07 und C-432/07 die Entschädigungen auszahlen.
Diese Rechte haben Fluggäste
Laut EG-Verordnung 261/2004 hat jeder Fluggast Anrecht auf Entschädigung, wenn sich ein Flug mehr als drei Stunden verspätet. Je nach Entfernung des Reiseziels und Umfang der Verspätung beläuft sich der Schadensersatz auf 250, 400 oder 600 Euro. Alle EU-Airlines sind zu diesen Zahlungen verpflichtet.
Ausgenommen vom Schadensersatz sind Flugverspätungen aufgrund „außergewöhnlicher Umstände“. Das können Streiks, Terroranschläge oder Naturkatastrophen sei – nicht aber technische Schwierigkeiten, es sei denn, es handelt sich um Herstellerfehler.
Viele Airlines lassen sich lieber verklagen, als von vornherein Entschädigungen zu zahlen. Besonders gegen Condor und Air Berlin stapeln sich die Eingaben bei den Gerichten. Oft gleichen sich die Gründe für Verspätungen – und meist erhält der Fluggast recht.
Viele Verbraucher scheuen den Gang vor Gericht, zumal wenn sie keine Rechtschutzversicherung abgeschlossen haben. Wer das Risiko auf null senken will, kann sich an Rechtsdienstleister wie Flightright wenden, die Gerichtskosten sogar bei verlorenen Verfahren tragen. Meist gewinnen sie aber und berechnen dem Kunden stattliche 25 Prozent der Entschädigung.
Keine Schuldeingeständnis
Condor reagiert nicht. Es bedarf zweier Anschreiben mitsamt Androhung juristischer Konsequenzen, um eine Sachbearbeiterin aus der Reserve zu locken. Deren Schreiben an mich trieft vor Floskeln. Auf den konkreten Fall geht sie mit keinem Wort ein. Condor treffe „keine Schuld“. Vor Gericht beruft man sich später auf „außergewöhnliche Umstände“.
Auf zwölf Stunden, rechne ich den Ferienfliegern vor, summiert sich die Verspätung unterm Strich. Sie entstand, weil ein Fenster kaputt war, weil nicht gleich eine Ersatzmaschine beschafft werden konnte und weil die am Zwischenstopp Mombasa übernehmende Crew auf dem Weg zum Flughafen im Stau stecken geblieben war. Ironie kann ich mir nicht verkneifen und frage, wer die Verantwortung für die Verspätung trage, wenn nicht Condor: Flugzeughersteller Boeing etwa, dessen Scheiben nicht halten? Oder die Regierung von Kenia, die nichts gegen Verkehrschaos tut?
Dass Condor sich stur stellt, überrascht Holger Hopperdietzel nicht. Der Rechtsanwalt aus Wiesbaden hat sich auf Klagen gegen Fluggesellschaften spezialisiert. Zusammen mit seinem Frankfurter Kollegen und Ronald Schmid hat er Anfang des Jahres die „Wiesbadener Tabelle“ der Fluggastrechte herausgeben, die Präzedenzfälle und Grundsatzurteile zusammenfasst. „Condor und Air Berlin lassen es sehr häufig auf Verfahren ankommen“, sagt Hopperdietzel. Dabei sei der Sachverhalt oft derselbe: verstopfte Klos, defekte Hydraulik, Probleme beim Triebwerktest. Mit Verweis auf „außergewöhnliche Umstände“ bügelten Airlines Schadensersatzansprüche ab. „Außergewöhnlich“ sind Streiks, Terroranschläge, Fabrikationsfehler oder die Aschewolke, nicht aber technische Defekte und fehlende Ersatzmaschinen.
Im Sinne des Klägers





In Deutschland werden im Jahr mehr als 40.000 Urteile wegen Flugverspätungen gesprochen – fast immer im Sinne des Fluggasts, sagt Anwalt Hopperdietzel. Beim Amtsgericht Rüsselsheim liegen allein gegen Condor 2400 Klagen vor. Richter sind genervt ob der Klagen-Plage, die die systematischen Flugverspätungen des Ferienfliegers nach sich ziehen. „Im Normalfall verlieren wir solche Verfahren nicht“, so Hopperdietzel. Es sei denn, ein Mandant habe ihn über den Sachverhalt falsch informiert und etwa verschwiegen, dass ein Flug zum Sondertarif eingekauft wurde.
Condor behauptet glatt das Gegenteil: In einer E-Mail an die WirtschaftsWoche heißt es, dass „jeder Fall einzeln geprüft“ und „im Zweifelsfall eine gütliche Einigung mit dem Passagier angestrebt“ werde. Sofern mal ein Streit gerichtlich ausgetragen werde, „wird überwiegend zu unseren Gunsten entschieden“. Überhaupt lägen Beschwerden gegen Airlines im „sehr niedrigen Bereich“. Fast identisch fallen Sprachregelungen aus, die Condor bei Anfragen anderer Medien herausgibt.
Verbraucherschützer schätzen, dass allein die deutschen Airlines rund 650 Millionen Euro an Entschädigungen berappen müssten, wenn jeder Passagier seine Rechte geltend macht. Doch nur 20 bis 25 Prozent der Passagiere eines verspäteten Flugs trauten sich auf den Klageweg, sagt Anwalt Hopperdietzel. Zu groß sei die Furcht, auf den Prozesskosten sitzen zu bleiben.
Gewonnen!
Grimmig blickt der hessische Löwe auf dem Brief des Amtsgerichts Frankfurt, der mir am 21. März zugestellt wurde. „Im Namen des Volkes“ wird im Fall „Willershausen gegen Condor Flugdienst“ für Recht erkannt, dass Condor im Unrecht ist und 600 Euro nebst Zinsen an den Kläger zahlen muss. Die Kosten für das Verfahren kommen obendrauf. Gewonnen!
Steuern & Recht
Die volle Entschädigung erhalte ich dennoch nicht überwiesen. Weil mir das Risiko der Klage anfangs zu hoch schien, habe ich den Rechtsdienstleister Flightright vorgeschickt. Das Unternehmen aus Potsdam übernimmt die Risiken eines Verfahrens und mahnt die Airline ab – kassiert dann aber eine Erfolgsprämie in Höhe von 25 Prozent. Da Flightright die wenigen strittigen Fälle nicht annehmen muss, ist das ein äußerst lukratives Geschäftsmodell.
Aber auch die Masche der Airlines lohnt sich: Wenn mehr als drei Viertel der Passagiere bei verspäteten Flügen ihr Recht auf Entschädigung nicht einfordern, spart jede Fluglinie mehr Geld für Entschädigung, als die Verfahren kosten. In meinem Fall stellt Rechtsanwalt Hopperdietzel an Condor eine Rechnung über 262,68 Euro, die Gerichtsgebühren belaufen sich auf 35 Euro. Meine Verspätung auf dem Weg in den Urlaub hat Condor also knapp 900 Euro gekostet – und einen Kunden. Denn mit denen, das steht fest, werde ich so bald nicht mehr fliegen. Auch nicht, wenn ich dem Konzept Pauschalurlaub irgendwann doch noch mal eine Chance geben sollte.