Kommentierung zum EU-Recht Juristen rechtfertigen Politik ohne Grenzen

Ein neuer juristischer Großkommentar soll Juristen das EU-Recht für die Praxis erläutern - auf mehr als 6500 Seiten. Das Werk ist umfassend und immens wichtig - aber bei manchen Fragen viel zu unkritisch. Anstatt Grenzen aufzuzeigen, rechtfertigt es Kompetenzüberschreitungen.

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Ein neuer juristischer Großkommentar soll Juristen das EU-Recht für die Praxis erläutern - auf mehr als 6500 Seiten. Quelle: REUTERS

Wen beschäftigt in diesen Zeiten nicht die bange Frage: Wie rette ich mein Vermögen? Klug ist, Risiken zu streuen. Deswegen kann sich bisweilen auch empfehlen, in Bücher zu investieren.

Die vier mächtigen Bände des neuen juristischen Kommentars zum Primärrecht der Europäischen Union könnten durchaus Wertsteigerungspotenzial haben. Für das Mammutwerk „Frankfurter Kommentar zu EUV, GRC und AEUV“, erschienen im Verlag Mohr Siebeck, gibt es im Grunde nur zwei Möglichkeiten: Entweder erklärt es genau diejenigen europäischen Verfassungstexte, die unseren Kontinent künftig maßgeblich prägen. Oder es gehört mit einem nahen Ende der Europäischen Union schon vor dem Erscheinen einer zweiten Auflage ins Antiquariat.

Der „Frankfurter Kommentar“ hat es in sich: Auf mehr als 6500 Seiten erläutern und kommentieren knapp 60 Wissenschaftler und Juristen den Vertrag über die Europäische Union, die Grundrechte-Charta der Europäischen Union und den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union nach den Reformen im Vertrag von Lissabon. Die drei Herausgeber verbindet, dass sie Rechtsprofessoren in Frankfurt an der Oder sind. Das gibt dem Werk seinen Namen.

Zum Autor

Warum das Antiquariat droht? Nirgendwo berühren sich Macht und Recht mehr als im Verfassungsrecht. Folglich ist es ein besonderes Geschäft, Verfassungstexte zu interpretieren. Hinter jedem Gesetzesartikel lauert Politik. Scheitert also die Politik, dann scheitert auch die Verfassung und es war vergebliche Liebesmühe, sie kommentiert zu haben.

Den Herausgebern des Werkes war diese Gefahr erklärtermaßen bewusst. Dennoch machten sie sich an die Arbeit. Denn sie vertrauen nach wie vor ungebrochen auf die Wirkung jeder Krise auf dem Kontinent:  einen Entwicklungsschub, hin zu europäischer Rechtsvereinheitlichung. Dann könnte sich das vierbändige Werk zum unverzichtbaren Standardkommentar zum EU-Recht mausern, ähnlich einem „Palandt“ für das Bürgerliche Gesetzbuch „dem Fischer“ für das Strafgesetzbuch. Kein bisheriger Kommentar hat EU-Recht bislang so umfassend behandelt.

Das Werk

Aber bevor das Werk zum juristischen Mainstream wird, könnte es an der Praxis scheitern. Trotz der erheblichen Bedeutung dieser Rechtsquellen werden diese in der täglichen Rechtspraxis noch immer merkwürdig selten genannt. Hinter vorgehaltener Hand geben Juristen in aller Regel auch zu, den Vertrag von Lissabon nie gelesen zu haben. Diese Lesefaulheit ist zwar einerseits verständlich, andererseits aber auch bedauerlich.

Bedauerlich ist auch, dass in der öffentlichen Diskussion noch viel zu selten auf die Charta der Grundrechte zurückgegriffen wird. Sie beschreibt und garantiert grundlegende Menschen- und Bürgerrechte, die unseren europäischen Alltag maßgebend prägen.

Carlos A. Gebauer ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht. Quelle: PR

Die Völkerrechtlerin Carmen Thiele beispielsweise erläutert im Frankfurter Kommentar das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit als eines der ältesten Menschenrechte. Es konstituiert ein wesentliches Fundament unserer demokratischen Gesellschaft. Alle Eingriffe in die Meinungsäußerungsfreiheit, zum Beispiel Publikationsverbote, oder Beschränkungen der Informationsfreiheit bedürfen daher einer verfassungsrechtlichen Legitimation auf europäischer Ebene. Wer die aktuellen Debatten um Freiheiten im Internet verfolgt, der ahnt, welche Relevanz diese Kommentierungen haben können.

Das gleiche gilt für jede Diskussion um wirtschaftliche Bewegungsspielräume. Autor Jürgen Kühling beschreibt das klassische Grundrecht auf Eigentum in seiner zentralen Bedeutung für eine freiheitliche Wirtschaftsordnung. Wirtschaftsfragen sind europäische Verfassungsfragen. Wer also in Europa wirtschaftet, sollte die Grundrechtecharta unter dem Arm tragen.

Nachträglicher Juristen-Segen für eigenmächtige Kompetenzerweiterung

Umgekehrt ist es verständlich, wenn mancher Jurist von der Lektüre der ‚Lissabonner‘ Vertragstexte absieht. Denn allzu oft erliegen die Gesetzesregeln hier der Versuchung, sich den politischen Tageslaunen nur gar zu flexibel anzudienen. Das spiegelt dann auch die Frankfurter Kommentierung des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union deutlich wider.

Artikel 352 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union betrifft beispielsweise die Frage, ob sich die Union selbst ohne Beteiligung der Mitgliedstaaten neue, eigene Kompetenzen zuschreiben kann. In letzter Konsequenz ähnelt dies der Frage, ob ein Bevollmächtigter den Umfang seiner Vollmacht ohne Mitwirkung des Vollmachtgebers ausdehnen kann. Was im normalen Leben unmöglich ist, gestattet sich die Europäische Union.

Der Aachener Rechtslehrer Walter Frenz erläutert dazu, der Artikel ertüchtige zwar nicht zu grenzenlosen Selbstermächtigungen, doch die als „Flexibilitätsklausel“ auszulegende Regel erlaube der Union, „auf Feldern tätig zu werden, die bislang gar nicht als Aktionsfelder für die Union erkannt wurden“. Bei Auftreten neuer Phänomene könne daher das „Unionsrecht flexibel fortentwickelt werden, auch wenn bislang keine Kompetenzgrundlage vorhanden ist“.

Auf mehr als 6500 Seiten erläutern und kommentieren knapp 60 Wissenschaftler und Juristen den Vertrag über die Europäische Union, die Grundrechte-Charta der Europäischen Union und den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union nach den Reformen im Vertrag von Lissabon.

Die vertraute rechtsstaatliche Regel, dass staatliche Stellen nur genau das tun dürfen, was ihnen zuvor durch Gesetz ausdrücklich gestattet wurde, ist mit solchen eigenwilligen Flexibilitätsregeln natürlich ausgehebelt. Auch die von der mitkommentierenden Rechtsreferendarin Stephanie Dausinger besorgte Interpretation, dass die europäische Finanzkrise unkontrollierbaren „Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Ereignissen“ gleichstehe und deswegen notstandsartige Rettungsschirme legitimiere, erscheint methodisch in mehrfacher Hinsicht mutig, auf jeden Fall aber fragwürdig. Kann man die verfassungsrechtlich verbotene Gesamtschuldnerschaft von Staaten durch Sekundärrecht „überwinden“, wie sie schreibt? Zweifel sind angebracht.

Vielleicht liegt die Chance für eine Zukunft der Union weniger in derart defensiven Zugeständnissen an eine undeutliche Politik als vielmehr im offensiven juristischen Einfordern handwerklich sauberer Gesetzesbegriffe. Dazu sind mächtige Standardkommentare, wie es der Frankfurter Kommentar werden will, grundsätzlich gut geeignet. Dazu müssen sie aber auch den Fokus auf die neuralgischen Punkte im Rechtssystem lenken.

Die bestens geordneten Bände aus dem Hause Mohr/Siebeck mit ihrem benutzerfreundlichen Sachverzeichnis erleichtern den Zugang zu der ambitionierten Materie erheblich. Die knapp 800 Euro, die Juristen für die vier Bände berappen müssen, sind durchaus gerechtfertigt.

Zu schade wäre es jedenfalls, wenn sich für die Europäische Union und ihre juristischen Architekten allerorten einmal mehr die Worte des legendären Soziologen Cyril Northcote Parkinsons aus dem Ursprungsjahr der Römischen Verträge bewahrheiten würden: „Es ist heute bekannt, dass eine Perfektion der Planung nur von jenen Institutionen erreicht wird, die sich am Rande des Ruins befinden. Es gibt Beispiele im Überfluss von neuen Gebilden, die das Licht der Welt erblicken, voll ausgestattet mit stellvertretenden Direktoren, Beratern und Geschäftsführern, alle versammelt in einem Gebäude, das speziell für diesen Zweck geplant und errichtet wurde. Die Erfahrung lehrt uns, dass eine solche Gesellschaft stirbt. Sie wird von ihrer eigenen Vollkommenheit erstickt.“

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