Es ist eine Crux mit der Patientenverfügung: Der Grundgedanke ist unbestritten sinnvoll.
Ein Mensch legt im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte schriftlich fest, welche lebenserhaltenden medizinischen Maßnahmen er als Sterbenskranker noch erhalten möchte – und welche eben nicht.
Zugleich setzt er eine Person seines Vertrauens als Betreuer ein, der Ärzte und Pfleger über diese Form seines letzten Willens informiert und die aus der Patientenverfügung resultierenden Vorgaben im Sinne des Schwerkranken auch durchsetzt.
Soweit die Theorie. In der Praxis krankt aber die Mehrheit der Patientenverfügungen über zu unkonkrete Aussagen, welche Behandlungen der Kranke in welcher Situation mit welcher Erfolgsaussicht wirklich will.
Diese lebensentscheidenden Details und die Fülle der medizinischen Optionen sind für medizinische Laien kaum zu überblicken. Aber vage Angaben in einer Patientenverfügung lassen im Ernstfall zu viel Interpretationsspielraum, über den sich Betreuer und Mediziner dann streiten können. Das beklagen Ärzte und Juristen seit langem.
Noch schlimmer als der Streit am Krankenbett zwischen dem Betreuer und den Ärzten ist es aber, wenn Mediziner oder Pflegedienste willentlich die Patientenverfügung ignorieren, um zum Beispiel teure Beatmungstage abrechnen zu können.
Eben das wirft der Wittener Palliativmediziner Matthias Thöns der Pflegebranche vor. Der Arzt hat selbst mit einer ausgedachten Geschichte 200 ambulante Anbieter von Intensivpflege angefragt, ob sie bereit wären, einen Patienten aufzunehmen und gegen dessen Verfügung dauerhaft zu beatmen. 155 Pflegedienste antworteten, 90 Prozent sagten zu.
Obgleich Handeln gegen eine Patientenverfügung juristisch als Körperverletzung betrachtet und bestraft wird.
Auch ein eingesetzter Betreuer macht sich strafbar, wenn er die Vollmacht unterschlägt oder gegen deren Vorgaben handelt. Eine Patientenvollmacht ist immer rechtlich bindend, selbst beim Betreuungsgericht.
Gitta Neumann, Referentin bei der Bundeszentralstelle Patientenverfügung, die zu der Humanistischen Gesellschaft Deutschland gehört, wundert das Vorgehen solcher unlauteren ambulanten Pflegedienste nicht. Die Expertin sagt: „Es rechnet sich: Für die künstliche Beatmung eines Patienten zuhause bekommt ein Pflegedienst im Schnitt 16.000 Euro im Monat und kann drei Mitarbeiter mit der Vollzeitüberwachung des Kranken darüber abrechnen.“
Wie lässt sich der Missbrauch vermeiden?
Am Wichtigsten ist eine bis ins Detail ausformulierte Patientenverfügung, die keinen Interpretationsspielraum lässt. Sie muss klar regeln, welchen medizinischen Maßnahmen der Kranke in welchem Krankheitsstadium noch zustimmt – und welche er ab wann ausschließt. Aber: Faktisch lässt sich das mangels medizinischen Wissen kaum ohne die Hilfe eines Mediziners, eines Hospizbetreuers, einer Organisation wie der Bundeszentrale Patientenverfügung oder einem darauf wirklich spezialisierten Anwalts klären.
Selbstredend darf auch nur solch ein Betreuer eingesetzt werden, der das ihn in gesetzte Vertrauen rechtfertigt. Aber das allein reicht noch nicht, warnt Gitta Neumann. „Entscheidend für den Ernstfall ist, dass der Schreiber der Patientenverfügung und sein Betreuer vorher miteinander geredet haben und der Betreuer genau weiß, was der Schreiber mit welcher Formulierung ausdrücken wollte“, plädiert Neumann für mehr Kommunikation. „Bei einer schnell ausgefüllten und zu den Akten gelegten Standard-Vollmacht aus dem Internet weiß der Betreuer erfahrungsgemäß oft gar nicht, was denn eigentlich die Intention des mittlerweile Schwerkranken war.“
Ein Beispiel: Wie hoch muss die Überlebenswahrscheinlichkeit aus Sicht des Kranken sein, damit er sich längerfristig künstlich beatmen lassen will? Sind 30 Prozent zu wenig? Müssen es mehr als 50 Prozent sein? Soll Gottes Wille entscheiden statt dem eines Mediziners? War der Kranke ohnehin schon des Lebens müde oder von Grund auf optimistisch und kampfbereit?
Wie viel Schaden am Gehirn wären ihm erträglich für ein aus seiner persönlichen Sicht lebenswertes Leben? Schwierige Fragen.
Können sich der eingesetzte Betreuer und die Ärzte nicht über die Fortführung oder den Abbruch einer lebensverlängernden Behandlung auf Basis der Patientenverfügung verständigen, kann jede Seite das so genannte Betreuungsgericht anrufen.
Dann entscheidet ein Betreuungsrichter binnen Tagen, wie es mit dem Schwerkranken weitergehen soll.
Doch soweit sollte es eigentlich nicht kommen. Reden hilft. Auch hier.
Gute Unterstützung bei der Patientenverfügung bietet die ausführliche und kostenlose Broschüre des Bundesjustizministeriums und das kostenpflichtige, so eben aktualisierte Taschenbuch der Verbraucherzentrale.