Rein rechtlich

Aufsichtsräte in der Haftungsfalle

Bei ThyssenKrupp hatten Aktionäre gedroht, dem Aufsichtsrat die Entlastung zu verweigern. Ein sehr seltener Schritt. Rechtlich sind die Konsequenzen gering - doch das Image der Kontrolleure steht auf dem Spiel.

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Nicht nur das Handeln des Vorstandes steht im Visier der Aktionäre, immer häufiger geraten auch die Aufsichtsräte in die Schlagzeilen – weil sie nicht oder nicht ausreichend gehandelt, sprich eingegriffen haben. Das Kontrollgremium von ThyssenKrupp sieht sich derzeit massiver Vorwürfe ausgesetzt, zuletzt wegen Kartellverstößen und etwaiger „Luxusreisen“. Einige Aktionäre hatten deshalb angedroht, dem Aufsichtsrat die Entlastung zu verweigern. Rechtlich betrachtet sind die Folgen gering, Haftungsansprüche kann die Gesellschaft auch nach und trotz der Entlastung geltend machen. Für das Ansehen der Aufseher hingegen wäre die Verweigerung einem Misstrauensvotum gleichgekommen.

Die Entlastung des Aufsichtsrates einer Aktiengesellschaft ist zunächst nichts anderes als der alljährlich zu fassende Beschluss der Hauptversammlung, die Verwaltung der Kontrolleure in der Vergangenheit zu billigen und dem Aufsichtsorgan weiterhin das Vertrauen auszusprechen. Juristisch umstritten ist aber der Ermessensspielraum der Hauptversammlung. Offen ist, ob Maßstab der Entscheidung nur die Gesetzmäßigkeit und Satzungsmäßigkeit des Handelns des Organs ist oder ob auch sonstige Erwägungen wie beispielsweise moralische Fehltritte einbezogen werden können.

Die Entlastung kann entweder dem gesamten Organ gegenüber oder einzelnen Aufsichtsratsmitgliedern gesondert erteilt werden. Kommt ein Entlastungsbeschluss nicht mit der erforderlichen Mehrheit zustande, gilt die Entlastung automatisch als verweigert.

Die Folgen der Entlastung sind bei GmbH und Aktiengesellschaft unterschiedlich. Bei der Aktiengesellschaft ist gesetzlich ausdrücklich geregelt, dass die Entlastung keinen Verzicht auf Ersatzansprüche der Gesellschaft gegen das handelnde Organ wegen einer Pflichtverletzung bewirkt. Bei einer GmbH fehlt allerdings eine solche gesetzliche Regelung. Hier hat die Entlastung beim fakultativen Aufsichtsrat Verzichtswirkung, bei Unternehmen, die zur Einsetzung eines Aufsichtsrats verpflichtet sind, zumindest bei Einhaltung einer dreijährigen Karenzzeit. Die juristischen Problemfelder sind an dieser Stelle vielschichtig. So stellt sich die Frage, wie sich die Entlastung eines einzelnen Aufsichtsratsmitgliedes auf den Grundsatz der Gesamtverantwortung des Aufsichtsrats als Organ auswirkt. Die Expertenmeinungen gehen hier weit auseinander.

Entlastung kein Verzicht auf Haftungsansprüche gegen Aufsichtsräte

Diese Figuren bestimmen das Machtspiel
Gerhard Cromme, 69, der Aufsichtsratschef der ThyssenKrupp AG Seit seinem Einstieg Ende der 1980er Jahre saß er an allen wichtigen Schaltstellen des Essener Konzerns - und war für den Umbau des Traditionsunternehmens mitverantwortlich. Stets unter dem wachsamen Auge von Berthold Beitz, mit dem er sich abspricht. Cromme saß im Krupp-Chefsessel, schon bevor diese in eine Aktiengesellschaft umgewandelt wurde, und noch bevor diese mit der Thyssen Stahl AG fusionierte. Seit 2001 ist er der Aufsichtsratsvorsitzende der ThyssenKrupp AG - und in dieser Position war er an allen wesentlichen Entscheidungen beteiligt, die schließlich zur Fehlinvestition der Stahlwerke in Brasilien und den USA führten. Nun dürften nicht wenige Aktionäre die Frage stellen: Was und wie viel wusste Gerhard Cromme genau? Quelle: dapd
Berthold Beitz, 99, Vorsitzender der Krupp-Stiftung Er ist ein Urgestein bei Krupp, für das Unternehmen arbeitet er seit bald 60 Jahren. Im Jahr 1968 übernahm Beitz den Vorsitz des Kuratoriums der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung. Dieser Stiftung, in die das Kruppsche Privatvermögen überführt wurde, gehört wiederum 25,3 Prozent an Thyssen-Krupp. Beitz ist somit einer der mächtigsten Manager in der deutschen Wirtschaft. Als Vorsitzender der Stiftung unternimmt Beitz auch informelle Intervention im ThyssenKrupp-Konzern, gemeinsam mit Cromme bildet Beitz ein gehärtetes Duo, an dem keiner im Konzern vorbeikommt. Beitz gab eine Biographie heraus, die er vor Drucklegung absegnete. Infolgedessen ist fast nur Positives über ihn dort zu lesen, wenig Selbstkritisches. Eine überragende Position nimmt Beitz in der Nazizeit ein. Er ist zwar kein Widerstandskämpfer, rettet aber - ähnlich wie Oskar Schindler - hunderten von Juden das Leben, in dem er sie als Direktor der Kapathen-Öl in Russland anstellt und somit vor dem Tod bewahrt. Quelle: dpa
Heinrich Hiesinger, 52, Vorstandsvorsitzender der ThyssenKrupp AG Vor seinem Aufstieg in den Chefsessel der ThyssenKrupp Anfang 2011 war Hiesinger bei Siemens für den Sektor Siemens Industry zuständig. Bei ThyssenKrupp hat sich der Schwabe vorgenommen, die alten Seilschaften zu kappen und den Konzern nach den Maßstäben des Weltmarktes zu richten. Dafür möchte Hiesinger Kosten senken und die Effizienz steigern. Die Losung lautet: Weg vom Stahl und dafür mehr Industrie- und Anlagenbau, Aufzüge und Marineschiffbau. Quelle: dpa
Guido Kerkhoff, 44, Finanzvorstand der ThyssenKrupp AG Gemeinsam mit Konzern-Chef Hiesinger steht Kerkhoff vor der Aufgabe, ThyssenKrupp wieder auf Vordermann zu bringen. Vor seinem Managerposten bei ThyssenKrupp war er Mitglied des Vorstands der Deutsche Telekom AG, verantwortete die Region Süd- und Osteuropa und ab April 2010 die Region Europa. Als Finanzchef der ThyssenKrupp AG möchte er am operativem Geschäft teilnehmen und die hierarchische Kultur im Konzern abschaffen. Quelle: dapd
Bertin Eichler, 61, stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender bei der Thyssen Krupp AG, Vorstandsmitglied der IG Metall Eichler musste jüngst einräumen, dass er mit dem Aufsichtsrat von ThyssenKrupp auf Kosten des Unternehmens in der Ersten Klasse nach China, Thailand, in die USA und nach Kuba geflogen war. Sein Einwand: Es habe sich um dienstliche Reisen gehandelt. Eichler will sich zur Hauptversammlung im Jahr 2014 aus dem Aufsichtsrat zurückziehen. Zudem kündigte der Gewerkschafter an, die Differenz zwischen den Kosten der meist von Geschäftsreisenden benutzten Business-Klasse und der Ersten Klasse zu erstatten. Denn: „Es ist nicht alles richtig, was zulässig und üblich war“. Quelle: dpa
Diese Vorstandmitglieder mussten wegen der schweren Managementfehlern und Fehlinvestitionen auf Anordnung Crommes ihren Platz räumen: (von links nach rechts) Compliance-Vorstand Jürgen Claassen (54), Technologie-Vorstand Olaf Berlien (50) und Stahl-Vorstand Edwin Eichler (54).

Die Entlastungsverweigerung zieht nicht automatisch weitere rechtliche Konsequenzen für den Aufsichtsrat bzw. seine Mitglieder nach sich. Insbesondere ist mit der Verweigerung der Entlastung trotz des Vertrauensentzugs nicht zwangsläufig die Abberufung des Aufsichtsratsmitglieds verbunden. Dies gilt selbst dann, wenn der Beschluss die hierfür erforderlichen Mehrheiten erreichen würde.

Die Abberufung ist nur durch einen tatsächlichen Abberufungsbeschluss und unter Einhaltung der hierfür geltenden Formalitäten möglich. Gleichermaßen hindert die Entlastung die Hauptversammlung aber nicht, ein Aufsichtsratsmitglied abzuberufen.

Die Aktionärsstruktur von ThyssenKrupp

Ähnlich verhält es sich mit etwaigen Schadensersatzansprüchen. Genauso wenig wie die Entlastungsverweigerung automatisch zu Schadensersatzansprüchen gegen den Aufsichtsrat führt, hindert eine einmal erfolgte Entlastung die Aktiengesellschaft nicht an einer Verfolgung etwaiger Ansprüche gegen den Aufsichtsrat. Anderes gilt für den Aufsichtsrat einer GmbH, bei der mit der Entlastung zumindest bei einem freiwillig eingesetzten Aufsichtsrat eine Verzichtswirkung verbunden ist. 

Die Verweigerung der Entlastung zieht also keine unmittelbaren rechtlichen Sanktionen nach sich. Sanktionierend wirken vielmehr die damit erzeugte Stigmatisierung und das Negativimage in der Öffentlichkeit. Aus diesem Grund ist die Drohung von Aktionären, die Entlastung zu verweigern, eher als ein politisches Druckmittel einzustufen als ein rechtliches.

Die Aktionäre können damit beispielsweise versuchen, das Aufsichtsratsmitglied faktisch zur Amtsniederlegung zu drängen, wenn der Fehltritt für eine Abberufung nicht reicht. 

Aufsichtsräte müssen um öffentliches Ansehen fürchten

Die Stärken und Schwächen von ThyssenKrupp
Stärke 1: Das Unternehmen besitzt ein solides Liquiditätspolster. Zwar hat Thyssen-Krupp gerade den zweiten Milliardenverlust in drei Jahren eingefahren. Dennoch ist der Konzern, dank eines sehr konservativen Finanzengagements, erstaunlich gut bei Kasse. Im vierten Quartal gelang es Finanzchef Guido Kerkhoff, die liquiden Mittel auf 3,6 Milliarden Euro zu erhöhen. Maßgeblich dazu beigetragen hat der Verkauf eigener Aktien, die ursprünglich als strategische Reserve für Übernahmen gedacht waren. Der Verkauf brachte einen Erlös von 1,6 Milliarden Euro. Quelle: dpa
Das aktuelle Liquiditätspolster reicht – abzüglich einer halben Milliarde Euro, die fest im operativen Geschäft gebunden sind – aus, um die in wenigen Monaten fälligen Finanzschulden von 0,6 Milliarden Euro abzulösen. Außerdem kann Thyssen-Krupp auf nicht gezogene Kreditlinien zurückgreifen, um sich bei Bedarf weitere 4,7 Milliarden Euro bei seinen Hausbanken zu borgen. Dank der hohen Liquidität sind die Anleihen von Thyssen-Krupp sogar für einen kleinen Kreis institutioneller Investoren interessant, die ihr Geld auch bei Unternehmen mit einer schlechten Bonitätsnote anlegen. Thyssen-Krupp gibt überwiegend Anleihen mit einem Nennwert von 1.000 Euro aus , wendet sich also gezielt an Privatanleger. Der Ruhrkonzern steht für Seriosität und finanzielle Solidität. Die Sorge, das Unternehmen könne pleitegehen, haben viele Privatanleger nicht. Bei den meisten Dax-Konzernen ist eine Mindeststückelung von 50.000 Euro üblich. Quelle: dapd
Stärke 2: Innovative Ingenieure sichern Vorsprung gegenüber den Konkurrenten. Der Investitionsgüter- und Stahlkonzern Thyssen-Krupp ist überwiegend auf bereits entwickelten Märkten tätig – und trifft dabei auf Konkurrenten mit günstigeren Kostenstrukturen. Um gegen sie zu bestehen, setzt der Konzern auf die innovative Kompetenz seiner Ingenieure. Denn erfahrungsgemäß sind die Kunden bereit, für bessere Qualität, größere Zuverlässigkeit und längere Lebensdauer eines Produktes einen Aufpreis zu bezahlen. Quelle: dapd
Auch im Geschäft mit seinen wichtigsten Kunden, den deutschen Autokonzernen, folgt Thyssen-Krupp diesem Prinzip. Und bei der wichtigsten Kennzahl, dem operativen Gewinn vor Abschreibungen pro Tonne Stahl, liegt der Konzern mit 124 Euro vor der Konkurrenz: Voestalpine verdient 105, Weltmarktführer Arcelor-Mittal sogar nur 44 Euro. Quelle: dpa
Allerdings musste Thyssen-Krupp auch lernen, dass ein vermeintlich günstiges Angebot am Ende richtig teuer werden kann: Um das Budget für das neue Stahlwerk in Brasilien nicht zu überziehen, hatte der Vorstand entschieden, die für das Milliardenprojekt wichtige neue Kokerei von einem chinesischen Anbieter bauen zu lassen. Der Experte im eigenen Haus, der Anlagenbauer Uhde, kam nicht zum Zug. Das Ergebnis ist bekannt: Die Chinesen lieferten Schrott, und jetzt muss Uhde für viel Geld die Kokerei ans Laufen bringen. Quelle: dpa
Stärke 3: Führende Marktposition in den meisten Geschäftsbereichen. Für einige Experten ist Thyssen-Krupp ein Paradebeispiel für einen Mischkonzern. Für andere ist der Essener Konzern ein unübersichtliches Industriekonglomerat. Tatsächlich zählt das Essener Traditionsunternehmen allein 636 Tochtergesellschaften in mehr als 80 Ländern, deren Geschäftszahlen, also Umsätze und Ergebnisse, voll in die Konzernbilanz einfließen. Quelle: dpa
Viele dieser Unternehmen sind in ihren Märkten tonangebend. Die Tochter Thyssen-Krupp Steel Europe beispielsweise ist nach Umsatz gemessen der zweitgrößte Anbieter auf dem Kontinent – hinter dem Branchenprimus Arcelor-Mittal. Weltweit belegt Thyssen-Krupp mit sämtlichen Stahlaktivitäten in Europa, Nord- und Südamerika sowie der Edelstahlstahlsparte nach Umsatz den siebten Rang. Nach Produktionsmenge zählt der Konzern nicht zu den Top 15. Quelle: dpa

Für den Aufsichtsrat, der damit öffentlich an den Pranger gestellt wird, kann die Entlastungsverweigerung daher auch ohne rechtliche Konsequenzen durchaus schmerzhaft sein. Dennoch stehen ihm kaum Rechtsmittel zu, um sich gegen das Misstrauensvotum zu wehren. Ein Anspruch auf Entlastung besteht nicht.

Aus der ThyssenKrupp-Bilanz 2011/2012

Das Aufsichtsratsmitglied kann weder den von der Hauptversammlung gefassten Beschluss über die Verweigerung der Entlastung anfechten, noch kann es per Klage durchsetzen, dass ihm positiv Entlastung zu erteilen ist. Auch stehen ihm keine Schadensersatzansprüche zu, wenn ihm zu Unrecht die Entlastung verweigert wird. Dies ist das Spiegelbild zu den fehlenden rechtlichen Konsequenzen der Entscheidung. Das Aufsichtsratsmitglied muss das Votum der Aktionäre daher im Zweifel hinnehmen.

Lediglich dann, wenn die Entlastung willkürlich oder aus völlig sachfremden Bestrebungen heraus verweigert wird, kann ein Grund für eine Amtsniederlegung oder eine Anfechtungsklage gegeben sein. Allerdings ist die Beschreitung des Klageweges für einen Aufsichtsrat einer Aktiengesellschaft strategisch fragwürdig.

Die Entlastung entfaltet keine Verzichtswirkung für etwaige Schadensersatzansprüche. Deshalb hat das Aufsichtsratsmitglied auch keine eigenständige Klagebefugnis, sondern ist auf die Aktion der Aktionäre oder des Vorstandes angewiesen. Und ob die Reputation eines Aufsichtsrats über ein langandauerndes Gerichtsverfahren wiederhergestellt werden kann, darf bezweifelt werden.

Für Aufsichtsräte wie auch für die Aktionäre ist die Rechtslage unbefriedigend. Eine Reform der Corporate Governance in diesem Punkt könnte für mehr Rechtssicherheit sorgen.

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