Spitzensteuersatz Wie die Mittelschicht zur Oberschicht umdefiniert wird

Auch wenn die Einkommen der Mittelschicht kaum gestiegen sind, fallen immer mehr Menschen unter den Spitzensteuersatz Quelle: Getty Images

Fast 80 Prozent der Deutschen zählen sich zur Mittelschicht. Der Staat sieht das an sich ähnlich, definiert jedoch übers Steuersystem einen Teil der Mitte um zur Oberschicht.

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Gehören Sie zur Mittelschicht? Falls Sie jetzt spontan denken: Ja, natürlich, dann geht es Ihnen so wie 80 Prozent der Deutschen. Aber sind Sie sich dessen wirklich sicher? Denn mit der Mitte ist es so eine Sache: Fast jeder hat eine Vorstellung davon, doch es fehlt die gemeinsame Definition. Das macht es besonders einfach, sie umzudefinieren – und genau das geschieht gerade. Mithilfe des Steuersystems werden immer mehr Teile der Mittelschicht schleichend zur Oberschicht.

Akademisch gehören all jene zur Mittelschicht im engeren Sinne, die zwischen 80 und 150 Prozent des Medianeinkommens verdienen. Selbst diese Definition ist nicht verbindlich, aber immerhin verbreitet. Die Bundesregierung fasst den Begriff in ihrem Armuts- und Reichtumsbericht noch etwas weiter, nämlich bei 60 bis 200 Prozent des Medians.

Wie hoch das Medianeinkommen eigentlich ist, wird jedoch kaum erhoben. Per Definition liegt es genau in der Mitte aller Einkommen in Deutschland, es verdient also eine Hälfte der Vollzeitbeschäftigten mehr und die andere Hälfte weniger als diesen Betrag. Die neuesten Zahlen des Statistischen Bundesamtes stammen aus dem Jahr 2014, wo der Median bei 3050 Euro brutto im Monat lag, also bei 36.600 Euro im Jahr.

Das DIW vergleicht die Entwicklung der Mittelschicht in Deutschland und den USA. Es gibt schockierend eindeutige Parallelen – und ein paar feine Unterschiede.
von Konrad Fischer

Davor gibt es nur offizielle Zahlen aus den Jahren 2006 und 2010 und selbst die sind laut Statistischem Bundesamt nur bedingt mit den aktuelleren Werten vergleichbar, weil sich die Berechnungsgrundlage verändert hat. Wenn wir von Armut und Reichtum, von Ober- und Unterschicht in Deutschland reden, dann tun wir das also auf sehr dünner Zahlenbasis.

Was man trotz der veränderten Berechnung sagen kann, ist, dass das Medianeinkommen gestiegen ist: 2006 lag es noch bei 2678 Euro im Monat. Gleichzeitig ist die Zahl derer, die unter die Mittelschichtsdefinition der Bundesregierung fallen, in etwa konstant geblieben. Sie liegt recht konstant bei gut 80 Prozent der Bevölkerung. Laut Bundesregierung hat Deutschland also eine breite, stabile Mitte. Doch jetzt kommt die Crux. Bezieht man das Steuersystem mit ein, so wird deutlich, dass ein Teil der – von der Bundesregierung als solche definierte – Mitte steuerlich zu den Topverdienern gezählt wird.

Fast vier Millionen zahlen den Spitzensteuersatz

Eigentlich ist der Spitzensteuersatz für Spitzenverdiener gedacht, die so ihr Scherflein zum Gemeinwesen beitragen sollen. Deshalb greift er erst ab einem überdurchschnittlich hohen Einkommen mit einem Grenzsteuersatz von 42 Prozent. So zumindest der Plan. In Realität müssen jedoch auch immer mehr Angehörige der Mittelschicht ihn bezahlen.

Auch hier ist die Datenlage wieder überraschend dünn. Das Statistische Bundesamt kann in punkto Spitzensteuersatz nur Zahlen für die Jahre 2001 bis 2013 zur Verfügung stellen. Doch schon die sind aussagekräftig genug: Fielen es im Jahr 2001 noch 879.000 Steuerpflichtige unter den Spitzensteuersatz, so ist ihre Zahl bis 2013 auf 2,121 Millionen Steuerpflichtige gewachsen. Das liegt vor allem daran, dass die Schwelle zum Spitzensteuersatz vergleichsweise niedrig ist. Lag sie im Jahr 2002 noch bei einem zu versteuernden Einkommen von 57.743 Euro, so wurde sie 2004 auf 52.152 Euro gesenkt. Zwischen 2010 und 2015 lag sie bei 52.882 Euro.

Für das Jahr 2017 gibt zwar keine Spitzensteuerstatistik, aber immerhin eine Schätzung der Bundesregierung – und die stützt den Trend. Demnach mussten 2,67 Millionen Steuerpflichtige den Spitzensteuersatz zahlen – mehr als dreimal so viele wie noch 2001. Da Ehepaare als ein Steuerpflichtiger gezählt werden, betraf das 3,9 Millionen Menschen. Und das, obwohl die Grenze des Spitzensteuersatzes weiter angehoben wurde und 2017 bei 54.057 Euro zu versteuerndem Einkommen begann. 2018 liegt sie bei 54.950 Euro.

Nimmt man nun die Definition der Bundesregierung als Grundlage, so zeigt sich, dass unter den neuen vorgeblichen Spitzenverdienern etliche Angehörige der Mittelschicht sind. Hierfür genügt es zu errechnen, bei wie viel Prozent des Medianeinkommens der Spitzensteuersatz beginnt. Für dieses Beispiel gehen wir von einem Single aus, es müssen also der Einfachheit halber nur Grundfreibetrag und Werbekostenpauschale verrechnet werden, um das zu versteuernde Einkommen zu erhalten.

Im Jahr 2004 lag der Spitzensteuersatz noch bei 190 Prozent des Medianeinkommens, also nahe der Grenze, bei auch für die Bundesregierung die Mittelschicht endet. 2014 betrug er dann nur noch 170 Prozent des Medians.

Aktuellere Zahlen gibt es nicht – zumindest nicht vom Statistischen Bundesamt. Die Bundesagentur für Arbeit hat immerhin Zahlen für 2016. Demnach lag das Medianeinkommen bei 3133 Euro. Der Schwelle zum Spitzensteuersatz wäre damit noch weiter gefallen, nämlich auf 168 Prozent. Die Arbeitsagentur erhebt jedoch nur die Einkommen angestellter Beschäftigter. Werden Selbstständige und Beamte in die Statistik mit aufgenommen, dürfte der Median deutlich höher liegen – und das Einkommen, ab dem der Spitzensteuersatz gezahlt werden muss, läge noch tiefer in der Mitte der Gesellschaft.

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