Strafzinsen auf Steuernachzahlungen Kämpfer gegen den staatlichen Wucherzins

Steuerrebell Hans Rieschel klagt gegen die hohen Strafzinsen des Finanzamts. Quelle: Felix von der Osten für WirtschaftsWoche

Trotz Nullzinsphase stellt der Fiskus säumigen Steuerzahlern sechs Prozent in Rechnung – und kassiert Milliarden. Nun wehren sich die Betroffenen - im Fall von Hans Rieschel nötigenfalls bis zum Bundesverfassungsgericht.

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Hans Rieschel wollte sich nicht einfach abfinden, nicht damit. Ein Bescheid vom Finanzamt Witten forderte ihn nicht nur zu einer Steuernachzahlung von 11 300 Euro auf, sondern auch noch zur Überweisung von 2542 Euro Zinsen. Für Bürger wie Rieschel sind solche Traumrenditen im Billiggeld-Zeitalter unerreichbar. Für den Staat offenbar vollkommen normal.

Zunächst, erzählt der Selbstständige aus dem Stahlhandel, habe er es im Guten versucht. Beim Finanzamt sei ihm gesagt worden, alles habe seine Richtigkeit – und, bitte, es treffe schließlich keinen Armen. Spätestens da erwachte der Rebell in Rieschel. Zumal, das ist ihm wichtig, es gar nicht an ihm gelegen habe, dass er erst nach Jahren einen Einkommensteuerbescheid für die Beteiligung an einem Fonds erhielt. Gleichwohl: Für 45 Monate Verzug berechneten ihm die Wittener Finanzbeamten die üblichen sechs Prozent Verzugszinsen pro anno, die sich unterm Strich auf 22,5 Prozent summierten.

Wenn Hunderttausende Bürger künftig weniger Strafzinsen an den Fiskus zahlen müssen, dürfen sie sich bei dem älteren Herrn in Wetter an der Ruhr bedanken. Rieschel fand mit seiner Wut Gehör beim Bund der Steuerzahler, der nach einem Sechs-Prozent-Opfer Ausschau hielt, um einen Musterprozess anstoßen zu können – am liebsten bis zum Bundesverfassungsgericht. „Sechs Prozent sind in Zeiten dauerhafter Niedrigzinsen völlig überzogen“, findet Steuerzahlerbund-Präsident Reiner Holznagel, „da werden Bürger und Unternehmen ohne jedes Maß zur Kasse gebeten.“

So wirken die Strafzinsen auf Bürger, Unternehmen und Staat.

Der 3. Senat des Bundesfinanzhofs (BFH) erklärte den hohen Zins zwar mittlerweile in einem Urteil für verfassungsgemäß. Doch Holznagel bleibt optimistisch, weil sich besagter Richterspruch nur auf die Jahre 2012/13 bezieht. Der Rieschel-Fall reicht aber bis ins Jahr 2015/16. Da habe sich die Niedrigzinsphase weiter verstetigt, was ein Festhalten an den sechs Prozent „noch unglaubwürdiger macht“, sagt Holznagel. Weiteren Mut flößt den Kritikern ausgerechnet der Präsident des BFH, Rudolf Mellinghoff, ein. Am Rande der Bekanntgabe des Urteils erklärte er diese Woche in München: „Die Frage der Verzinsung ist hoch umstritten – und daher weiß man nicht, wie der Bundesfinanzhof weitere Verfahren entscheiden wird.“ Im Übrigen zeigten die Verfahren, „dass es ein erhöhtes Unwohlsein bei den Steuerpflichtigen gibt“. Mit seiner eigenen Meinung hält der Gerichtspräsident, der zuvor elf Jahre Richter am Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe war, nicht hinter dem Berg: „Ich finde, dass eine völlig Abschaffung der Verzinsung von Steuernachforderungen und -erstattungen ein Beitrag zur Vereinfachung des Steuerrechts wäre.“

Die Politik tut nichts

Das allerdings wäre Sache der Politik. Und die bewegt sich bisher kein Stück. Nicht ein Satz findet sich zu dem Thema im Koalitionsvertrag, obwohl es viele Bürger und Unternehmen umtreibt. Das Beharren auf einem seit 57 Jahren gültigen Zinssatz sei nach mehr als fünf Jahren Nullzinspolitik der Europäischen Zentralbank sachlich nicht mehr zu rechtfertigen, sagt auch Klaus-Peter Naumann, Sprecher des Instituts der Wirtschaftsprüfer in Deutschland, das Bilanzierungsstandards setzt.

Warum der Fiskus blockiert, wird klar, wenn man sich dessen Einnahmen ansieht. Der Status quo ist ausgesprochen lukrativ für den Haushalt. Zwischen ein und zwei Milliarden Euro verdient der Staat jährlich an den Nachzahlungszinsen. Und zwar netto, also nach Abzug der gleich hohen, aber zu versteuernden, Erstattungszinsen, die der Fiskus umgekehrt Bürgern und Unternehmen für zu viel gezahlte Steuern zahlen muss.

Strafzinsen bescheren dem Staat Milliardeneinnahmen

Und das ist längst noch nicht alles. Der Staat nutzt den hohen Zinssatz auch in anderen Bereichen aus; dieser schlägt etwa im Unternehmenssteuerrecht bei der Ermittlung von Pensionsrückstellungen zu Buche – und zwar kräftig: 24 Milliarden Euro jährlich würden Firmen deswegen zu viel an Steuern zahlen, schätzt Johanna Hey, Direktorin des Kölner Instituts für Steuerrecht und Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat des Bundesfinanzministeriums. Eine Senkung des Steuerzinses auf ein marktgerechtes Niveau käme den Fiskus damit weit teurer als beispielsweise die Abschaffung des Solidaritätszuschlages.

Damit liegt es einmal mehr an der Justiz, die Politik zum steuerpolitischen Handeln zu zwingen, so wie bei der Aussetzung der Vermögensteuer (1995) oder bei der Reform der Erbschaftsteuer (zuletzt 2015).

Im Falle der Nachverzinsung haben betroffene Bürger wie Rieschel den Klageweg bis zum Bundesverfassungsgericht eingeschlagen. Beim Zinssatz für Pensionsrückstellungen hat das Finanzgericht Köln gerade eine Klage nach Karlsruhe weitergereicht. Kläger ist in diesem Fall ein mittelständisches Unternehmen aus dem Rheinland, das wegen der sechs Prozent fast in die roten Zahlen rutscht – und deshalb während des Gerichtsverfahrens anonym bleiben will. Aus Sorge, dass Banken und Lieferanten sonst die Kreditreißleine ziehen könnten.

Das Unternehmen erwirtschaftete zuletzt einen operativen Gewinn von 300.000 Euro, so steht es in der Handelsbilanz. In der Steuerbilanz taucht dagegen ein Plus von 900.000 Euro auf. Das klingt zunächst einmal nach gesunden Zahlen, hat aber zur Folge, dass das Unternehmen viel mehr Steuern zahlen muss – 290.000 Euro, also 97 Prozent vom kaufmännischen, korrekten Gewinn der Handelsbilanz.

Und das nur, weil das Steuerrecht bei Pensionsrückstellungen den Abzinsungssatz von sechs Prozent vorschreibt, das Handelsrecht dagegen nur knapp vier. Die zwei Prozentpunkte Differenz mögen auf Laien wie Peanuts wirken, führen bei der Ermittlung der jährlichen Rückstellungen aber dazu, dass das rheinische Unternehmen 600.000 Euro weniger als Aufwand ausweisen darf und als Gewinn versteuern muss.

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Steuerrechtlerin Hey, die den Unternehmer vor Gericht vertritt, argumentiert, das sei Besteuerung eines „Scheingewinns“. Sie hält die sechs Prozent angesichts der extrem niedrigen Zinsen für „nicht durch sachliche Gründe gerechtfertigt“. Sie fielen daher unter das Willkürverbot und seien verfassungswidrig.

Dass die Politik von sich aus nichts tut, enttäuscht den Mittelständler aus dem Rheinland. Sein Unternehmen biete den Mitarbeitern eine Altersvorsorge und werde dafür auch noch bestraft. Unter solchen Umständen müsse „ein Unternehmer doch verrückt sein, wenn er seinen Mitarbeitern noch eine Betriebspension anbietet“, sagt der Chef.

Und die Politik? Es werde bald „ernst für den Fiskus“, glaubt der CDU-Bundestagsabgeordnete und Steuerberater Fritz Güntzler. Er hat kein Verständnis für das Festhalten an den sechs Prozent. „Seit vier Jahren grabe ich an dem Thema“, sagt er, sei aber bislang keinen Schritt weiter gekommen. Und so bleibt Unternehmen und Bürgern wie Rieschel vorerst nur eines: selber kämpfen – vor Gericht.

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