Oma Erna ist schuld. Sie ist eine ältere Dame mit Hund und der Gewohnheit, einmal in der Woche frische Blumen auf das Grab ihres verstorbenen Gemahls zu stellen. Oma Erna ist nur eine Fiktion und geistert als solche durch das Bundesfinanzministerium. Dort machte sie solchen Eindruck, dass Minister Wolfgang Schäuble (CDU) und seine Spitzenbeamten vor der Reform des Mehrwertsteuersystems zurückschreckten, aus Angst vor drohendem öffentlichem Widerstand, falls etwa der für Hundefutter und Schnittblumen geltende ermäßigte Satz von sieben Prozent angehoben würde.
Zu Beginn dieser Legislaturperiode sahen CDU, CSU und FDP noch „Handlungsbedarf bei den ermäßigten Mehrwertsteuersätzen“. Im Koalitionsvertrag erklärten sie im Herbst 2009: „Aus diesem Grunde sollen wir eine Kommission einsetzen, die sich mit (...) dem Katalog der ermäßigten Mehrwertsteuersätze befasst“. Für Verfechter der Marktwirtschaft und eines gerechteren Steuersystems las sich diese Passage so, als würde eine Bundesregierung endlich mit dem Durcheinander aufräumen und einen einheitlichen Mehrwertsteuersatz schaffen.
7 oder 19 Prozent - Auf was wie viel Prozent Mehrwertsteuer fallen
19 Prozent Mehrwertsteuer
7 Prozent Mehrwertsteuer
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7 Prozent Mehrwertsteuer
7 Prozent Mehwertsteuer
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7 Prozent Mehrwertsteuer
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19 Prozent Mehrwertsteuer
7 Prozent Mehrwersteuer
19 Prozent Mehrwertsteuer
Die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft gab denn auch gleich ein Reformgutachten in Auftrag, das der langjährige Direktor des Instituts für Finanzwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Rolf Peffekoven, erarbeitete. Das frühere Mitglied des Sachverständigenrates („Fünf Wirtschaftsweise“) schlug vor, die Mehrwertsteuer weitestgehend zu vereinheitlichen. Außer Mieten und Pachten sollten alle Güter und Dienstleistungen mit einem einheitlichen Satz besteuert werden. Wegen der Steuermehreinnahmen, die sich aus der Abschaffung des ermäßigten Satzes ergäben, wäre eine Senkung des regulären Satzes von 19 auf 16 Prozent Mehrwertsteuer möglich, ohne dass der Staat auf Einnahmen verzichten müsste.
Der Wirtschaftsweise und andere Befürworter einer großen Vereinfachung hatten jedoch die Macht von Oma Erna und den Lobbyisten unterschätzt. Schon im Koalitionsvertrag von 2009 schlug sich der Einfluss einer mächtigen Gruppe nieder. Mit Verweis auf die europäische Wettbewerbslage, aber ohne jeglichen Beweis ihrer Gefährdung, steht dort, dass die Regierung „ab dem 1.1.2010 für Beherbergungsleistungen in Hotel- und Gastronomiegewerbe den Mehrwertsteuersatz auf 7 Prozent ermäßigen“ wolle.
Diesen Passus setzte die schwarz-gelbe Koalition dann auch zügig um. Das Einzelinteresse rangierte über dem Allgemeininteresse – kein Einzelfall, sondern eher die Regel im politischen Berlin. So sind in der offiziellen Lobbyliste des Bundestages 2141 Verbände registriert (Stand April 2013) – von der ABDA – Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände bis zum Zweirad-Industrie-Verband; irgendwo dazwischen befinden sich der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband (Dehoga) und der Deutsche Tourismusverband.
Ihre Vertreter dürfen inner- und außerhalb des Reichstags – ganz regulär und oft genug mit einem begehrten Hausausweis für den Bundestag ausgestattet – die Interessen ihrer jeweiligen Interessengruppe den Abgeordneten vortragen. Darüber hinaus unterbreiten sie mitunter den Politikern, ihren Mitarbeitern und auch den Ministerialbeamten Formulierungsvorschläge, die nicht selten eins zu eins in Gesetzentwürfe (oder Koalitionsverträge) einfließen.
Keine Vorteile für Verbraucher
Dem regen Treiben der Hotel- und Tourismuslobbyisten war es im Oktober 2009 zu verdanken, dass sich einige CSU- und FDP-Politiker bei den Koalitionsverhandlungen besonders für die Senkung des Mehrwertsteuersatzes in der Branche stark machten. Und zwar für sämtliche Restaurations- und Übernachtungsleistungen. Das aber sollte rund neun Milliarden Euro kosten, wobei allein der ermäßigte Satz für Speisen und Getränke in Restaurants mit über acht Milliarden Euro ins Kontor geschlagen hätte.
Das war den Koalitionären dann doch zu viel, obwohl ein einheitlicher Steuersatz für alle Nahrungsmittel durchaus sinnvoll gewesen wäre. Am Ende der Verhandlungen durften sich allein die Vertreter des Beherbergungsgewerbes über den ermäßigten Satz und eine damit verbundene Steuerermäßigung von ungefähr einer Milliarde Euro freuen.
7 oder 19 Prozent - Auf was wie viel Prozent Mehrwertsteuer fallen
19 Prozent Mehrwertsteuer
7 Prozent Mehrwertsteuer
19 Prozent Mehrwertsteuer
7 Prozent Mehrwertsteuer
7 Prozent Mehrwertsteuer
19 Prozent Mehrwertsteuer
19 Prozent Mehrwertsteuer
7 Prozent Mehrwertsteuer
7 Prozent Mehrwertsteuer
19 Prozent Mehrwertsteuer
7 Prozent Mehrwertsteuer
19 Prozent Mehrwertsteuer
7 Prozent Mehrwertsteuer
19 Prozent Mehrwertsteuer
Der Koalition allerdings bescherte die neue Subvention Ärger. Die Kritik schwoll an, als bekannt wurde, dass die FDP zuvor vom Hotelunternehmer August von Finck eine Millionenspende erhalten hatte. Prompt erhielt der Sieben-Prozent-Satz für Hotels den Spitznamen „Mövenpick-Steuer“.
Übrigens führte die Reduzierung des Mehrwertsteuersatzes nicht zu einer messbaren Senkung der Übernachtungspreise – die Verbraucher hatten nichts davon, keine Rede kann also davon sein, dass die Branche mit niedrigeren Preisen ihre Wettbewerbsfähigkeit im Tourismus erhöhte. Der Fachverband Dehoga meinte unverblümt, es könne gar nicht das Ziel sein, „die Übernachtungspreise eins zu eins zu senken“.
Auch das langjährige Mehrwertsteuerprivileg der Deutschen Post AG führte mitnichten dazu, dass die Verbraucher weniger Porto zahlen mussten. Vielmehr verschaffte dieses Privileg dem früheren Post-Monopolisten einen Wettbewerbsvorteil gegenüber der neuen Konkurrenz, die zunächst nicht flächendeckend überall in Deutschland als Anbieter auftreten konnten – was wiederum Voraussetzung für das Mehrwertsteuerprivileg war.
Die Erfahrungen bei Hotels und Post widerlegen das Argument, der ermäßigte Steuersatz (insbesondere bei Lebensmitteln) habe eine soziale Funktion. Peffekoven stellt dazu fest: „Ein zielgerichteter sozialer Ausgleich, egal, ob durch Steuerbefreiung oder Ermäßigung, funktioniert nicht, da die Vergünstigung teilweise nicht an die Konsumenten weitergegeben wird, sondern es sich lediglich um Unternehmenssubventionen handelt.“
Und selbst dort, wo die Steuerermäßigung an Konsumenten weitergegeben werde, habe sie keine soziale Funktion, da sie allen und nicht nur den sozial schwächeren Gruppen zugutekomme, kritisiert der ehemalige Wirtschaftsweise. Der soziale Ausgleich könne folglich nicht über die Mehrwertsteuer erfolgen, sondern nur über das Einkommensteuer- und Transfersystem erreicht werden.
Dabei sind die Einnahmeausfälle aufgrund des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes immens. Rund 23 Milliarden Euro sollen dem Fiskus dadurch jährlich entgehen, schätzt das Bundesfinanzministerium. Davon entfallen 17 Milliarden Euro auf Lebensmittel, 1,8 Milliarden auf kulturelle Leistungen, eine Milliarde auf Hotelleistungen und 800 Millionen auf Personenbeförderung.
Politiker kapitulieren vor Steuer-Wahnsinn
Befürworter eines einheitlichen Steuersatzes schlagen vor, die Harmonisierung mit zusätzlichen Sozialtransfers für Bedürftige zu flankieren. So ließe sich insbesondere der dann höhere Steuersatz auf Lebensmittel abfedern. Die damit verbundene höhere Zielgenauigkeit wäre zudem ein Beitrag zu einer gerechteren Lastenverteilung.
Doch Brotpreise sind nicht nur in Entwicklungsländern politische Preise. Der Abbau der Brotsubventionen – um nichts anderes handelt es sich beim siebenprozentigen Steuersatz – würde in Deutschland zwar nicht zu Hungeraufständen führen, die Empörung über die Abschaffung dieses Privilegs wäre dennoch gewaltig.
Deshalb haben die Politiker in Deutschland es auch nie ernsthaft in Erwägung gezogen, Nahrungsmittel normal zu besteuern. Die schwarz-gelbe Koalition hat frühzeitig zu erkennen gegeben, dass sich hier nichts ändern solle. Auch beim öffentlichen Personennahverkehr und kulturellen Leistungen wollte man nichts ändern, wegen des Umweltschutzes und der Bildung.
Die Abschaffung des ermäßigten Satzes auf die restlichen Güter und Dienstleistungen hätte damit nur noch rund vier Milliarden Euro eingebracht. Doch deswegen die Steuer auf Hundefutter und Schnittblumen anheben und sich den Ärger von Oma Erna einhandeln? Nein, das wollte sich Bundesfinanzminister Schäuble nicht antun. Tatsächlich hat der altgediente CDU-Politiker schnell die im Koalitionsvertrag angekündigte Reform beerdigt. Nicht ein einziges Mal kam die dafür eingesetzte Reformkommission zu einer Sitzung zusammen.
Politiker kapitulieren
Solange die Politiker diese heiße Kartoffel nicht anfassen, müssen sie jedoch mit dem Vorwurf leben, vor dem Wirrwarr aus abstrusen Ausnahmeregelungen kapituliert zu haben: Sieben Prozent auf Schnittblumen, aber nicht auf Topfpflanzen, sieben Prozent für Maultiere, aber nicht für Esel, sieben Prozent für Currywürste-to-go, aber bitte nicht beim Essen hinsetzen. Immer wieder stellt sich dabei auch die Frage nach der Gerechtigkeit solcher Ausnahmen. Warum ist es richtig, Hundefutter zu privilegieren, nicht aber Babywindeln?
Solange die Politiker nicht bereit sind, darauf Antworten zu geben (und diese dann auch in politisches Handeln umzusetzen), müssen sich stattdessen die Gerichte mit den unterschiedlichen Mehrwertsteuersätzen auseinandersetzen.
Ungerecht behandelt fühlte sich beispielsweise ein Fleischer aus Lemgo, der für Außer-Haus-Lieferungen von Suppen und Schnitzeln nach einer Betriebsprüfung plötzlich den vollen Mehrwertsteuersatz berappen sollte. Fleischer Richard Nier zog denn auch vor Gericht, er ging vom Finanzgericht Münster bis hinauf zum Bundesfinanzhof nach München, von dort zum Europäischen Gerichtshof nach Luxemburg und wieder zurück. Längst hat der Fall Kreise gezogen, Pizzalieferdienste und Sozialcaterer für Seniorenheime oder Kitas sind ebenfalls davon betroffen.
Erst da lenkten die Finanzbehörden ein. Die Vertreter von Bundes- und Länderfinanzministerien entschieden nach rund einjährigen Gesprächen miteinander, dass von nun an sämtliche Auslieferungen von Speisen nach der Devise „Essen ist Essen“ einem einheitlichen, in diesem Fall dem ermäßigten Mehrwertsteuersatz unterliegen sollen. Ein Sieg der Vernunft. Ein kleiner.