Verbraucherzentralen „Wir wollen keine Klageindustrie wie in den USA“

VW-Dieselskandal: EU-Kommission will Verbraucherrechte stärken Quelle: dpa

Die EU-Kommission macht Druck, um endlich Sammelklagen zu ermöglichen. Deutschlands Verbraucherzentralen fordern das schon lange, sind aber trotzdem nicht ganz glücklich mit dem Vorschlag aus Brüssel.

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Die EU-Kommission will die Rechte europäischer Verbraucher stärken. Wie EU-Justizkommissarin Vera Jourova am Mittwoch in Brüssel erklärte, sollen unter anderem bald Sammelklagen möglich werden. Sogenannte „qualifizierte Institutionen“ könnten dann stellvertretend für die Geschädigten gegen Unternehmen auf Unterlassung und Schadenersatz klagen - Institutionen wie etwa die deutschen Verbraucherzentralen. Otmar Lell leitet den Bereich Recht und Handel beim Bundesverband der Verbraucherzentralen. Im Interview erklärt er, was der Vorstoß aus Brüssel für deutsche Verbraucher bedeutet.

WirtschaftsWoche: Brüssel will den Weg für Verbraucher-Sammelklagen ebnen. Wie bewerten Sie den Vorstoß, geht er weit genug?
Otmar Lell: Der Vorschlag ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung und ergänzt sich sehr gut mit dem, was in Deutschland im Rahmen der Musterfeststellungsklage diskutiert wird.

Was wird sich für Verbraucher ändern?
Rein technisch geht es bei dem EU-Vorschlag um eine Erweiterung der Unterlassungsklage. Damit gehen wir als Verbraucherverband schon heute gegen rechtswidrige Geschäftspraktiken vor und sorgen dafür, dass sie eingestellt werden. Etwa bei benachteiligenden Allgemeinen Geschäftsbedingungen oder bei irreführender Werbung. Was es bisher jedoch nicht gibt, ist, dass geschädigte Verbraucher durch eine solche Unterlassungsklage ihr Geld zurückbekommen. Selbst wenn das Gericht feststellt, dass die Praxis rechtswidrig war, muss trotzdem jeder Verbraucher einzeln sein Geld von dem Unternehmen herausklagen.

Und in Zukunft muss der Verbraucher gar nichts mehr machen?
Künftig könnten wir für die Verbraucher gleich mit einklagen, dass das Geld zurückerstattet wird. Wenn wir einen Wettbewerbsverstoß feststellen, könnten wir nicht nur auf Unterlassung dieses Wettbewerbsverstoßes klagen, sondern wir können gleichzeitig beantragen, dass geschädigte Verbraucher Ersatz erhalten. Im Falle einer rechtswidrigen Gebührenerhöhung müssten dann alle Verbraucher, die von der Erhöhung betroffen waren, ihr Geld automatisch zurückbekommen, ohne dass die Verbraucher selbst tätig werden müssen.

Das klingt nach einem enormen Fortschritt für die Verbraucher.
Ob es wirklich so kommen wird, ist aber noch nicht ganz klar, denn genau an dieser Stelle lässt der Vorschlag den Mitgliedstaaten großen Spielraum. Mitgliedstaaten könnten nämlich auch verlangen, dass Verbraucher sich doch noch einmal persönlich melden müssen, um zu sagen, dass sie betroffen sind und Geld haben wollen. Diese Möglichkeit ist in den Vorschlag mit hineingeschrieben worden, um Bedenken gegen Opt-Out-Sammelklagen auszuräumen.

Das bedeutet?
Opt-Out-Sammelklagen haben eine Rechtswirkung für alle betroffenen Verbraucher, ohne dass die irgendetwas machen müssen. Das sieht gerade die Wirtschaft sehr kritisch, denn dann geht es für sie um deutlich größere Summen, als wenn jeder Verbraucher einzeln seine Hand heben muss.

Manche Beobachter sehen den EU-Vorschlag als eine Art Steinschleuder im Kampf David gegen Goliath. Das enorme Machtgefälle zwischen Verbrauchern und Industrie werde durch die Sammelklagen endlich angeglichen, frohlockt etwa Sven Giegold (Grüne), der finanzpolitische Sprecher der EVA-Fraktion im Europaparlament.
Ich wäre da etwas vorsichtiger. Ob das der ganz große Paradigmenwechsel ist, wird man erst sehen, wenn es sich in der Praxis bewährt – oder eben nicht. Wahr ist, dass wir in Deutschland im Bereich kollektiver Rechtsschutzinstrumente bislang rückständig sind. Es ist überfällig, dass sich das ändert. Den Begriff der Sammelklage halte ich aber übrigens für irreführend.

„Wir überlegen, wie wir VW verklagen könnten“

Inwiefern?
Bei Sammelklagen denkt man gleich an die Klageindustrie in den USA, aber dieses Modell ist nicht beabsichtigt und wird auch nicht kommen. Das US-System ist sehr aggressiv und kommerzialisiert. Das liegt an verschiedenen Eigenarten des US-Gerichtssystems, die aber in der EU gar nicht angedacht sind. So gibt es dort etwa ein Erfolgshonorar für Anwälte. Das wird es in Brüssel nicht geben. In Europa dürfen keine Privatkanzleien klagen, sondern nur Non-Profit-Organisationen. Wenn Prozessfinanzierer eingesetzt werden, dann dürfen diese keinen Einfluss auf das Klageverfahren ausüben.

Gerade die Geschädigten des VW-Dieselskandals hoffen nun auf eine schnelle Umsetzung, weil ihre Ansprüche Ende des Jahres verjähren. Wird es jetzt eine große Diesel-Klagewelle geben?
Der EU-Vorschlag dürfte bis Ende des Jahres noch nicht in trockenen Tüchern sein, wird hier also nicht helfen. Aber die Musterfeststellungsklage soll spätestens zum 1. November im Gesetzblatt stehen. Da kann man hoffen, dass das den VW-Geschädigten noch zu Gute kommt.

Bereiten Sie sich jetzt schon auf einen Ansturm von klagewütigen VW-Kunden vor?
Ja und nein. Wir überlegen heute schon, wie eine mögliche VW-Klage funktionieren könnte, aber das ist noch in einem vorläufigen Stadium. Dafür warten wir erst einmal ab, wie das Gesetz konkret am Ende ausfallen wird, um zu sehen wie realistisch es ist, dass wir mit einer solchen Klage auch gewinnen.

Was denken Sie, wie viele solcher Prozesse werden Sie in Zukunft führen?
Wir als Zentralverband werden voraussichtlich nur wenige Verfahren pro Jahr durchführen können, alleine deshalb, weil unser Prozesskostenetat nicht mehr hergibt. Aber wir hoffen, dass nicht nur wir von der Klagemöglichkeit Gebrauch machen, sondern auch andere Verbände, sodass sich eine gewisse Dynamik entwickelt. Wir erwarten von der Bundesregierung, dass sie die Klagebefugnis für die Musterfeststellungsklage breit definiert. Der Mieterbund oder der ADAC etwa stecken ja sehr tief in ihren Themen drin und sollten mit ihrer Fachkompetenz natürlich auch klagen können. Nur dann wird die Musterfeststellungsklage den erwarteten Nutzen bringen.

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