Art Report 2010 Kunst im Konditorei-Fenster

Seite 2/4

Familienporträt (Clegg/Guttmann) mit Sabine, Anna, Thomas, Bärbel Grässlin und Karola Kraus: Feines Näschen für höchste Qualität Quelle: Clegg & Guttmann, The Art Collectors, 2008

Für ihr feines Näschen, früh höchste Qualität zu erkennen, vor allem aber „wegen ihrer herausragenden Verdienste um die Vermittlung moderner Kunst“ verleihen der Bundesverband Deutscher Galerien und die Kölner Messegesellschaft den diesjährigen Preis der Kunstmesse Art Cologne der Sammlerfamilie aus dem Schwarzwald. Sie zählt zu den erfolgreichsten Netzwerkern des Kunstbetriebs: Über eine gemeinsame Stiftung finanzieren die Geschwister den Ausstellungsbetrieb, neue Arbeiten erwerben sie ohne festen jährlichen Etat, nach gemeinsamer Absprache, finanziert aus den Erträgen des Familienunternehmens und den Erträgen aus den Anteilen an der Grässlin KBS (die zu den europaweit wichtigsten Vertreibern von Kunststoffen zählt) sowie aus privaten Mitteln der Geschwister: Sabine führt das Restaurant Kippys, Karola Kraus, Stiftungsratsvorsitzende, ist seit knapp drei Jahren Direktorin der Kunsthalle Baden-Baden und designierte Direktorin des Museums für Moderne Kunst in Wien, Bärbel Grässlin führt seit Jahren in Frankfurt eine renommierte Galerie, Thomas Grässlin engagiert sich für eigene Unternehmungen wie das Projekt „Echtwald“.

Zu den von ihr vertretenen Künstlern gehört etwa der junge Maler Stefan Müller, dessen Arbeiten derzeit auch in einer großen Einzelausstellung in der Baden-Badener Kunsthalle zu sehen sind. Und sich in der Sammlung Grässlin finden. „Die letzten 20 Jahre habe ich mir ein internationales Netzwerk erarbeitet“, sagt Karola Kraus. „Wenn es sich um international wichtige Künstler handelt, kann es punktuell Überschneidungen zwischen meinem Arbeitsfeld und der Privatsammlung geben.“

Neue Pfade seit den 70ern

Die führt auch das geistige Erbe des Vaters Dieter Grässlin fort: Der kunstsinnige Unternehmer – Grässlin senior baute nach dem Krieg ein Unternehmen für Zeitschaltuhren auf, das im Jahr 2000 an den US-Konzern General Electric verkauft wurde – hatte mit Gattin Anna seit Ende der Sechzigerjahre eine beeindruckende Informel-Sammlung zusammengetragen, mit Werken von Künstlern wie Karl Otto Götz, Gerhard Hoehme oder Emil Schumacher. Malern, die im Dritten Reich als entartet galten und nach dem Ende der Nazi-Diktatur gegen das Kriegstrauma anmalten. Und von denen viele bei den Grässlins ein- und ausgingen.

Nach dem frühen Tod ihres Vaters 1976 folgten die Grässlin-Kinder der Spur der Eltern – und beschritten doch ihre eigenen Pfade. Über Bärbel Grässlin, die in der Stuttgarter Galerie Max Hetzler arbeitete, entdeckte die Familie nach und nach Künstler ihrer eigenen Generation, die wie sie in den Fünfzigerjahren geboren waren und Anfang der Achtzigerjahre erste Erfolge feierten – darunter die Maler Hubert Kiecol, Albert und Markus Oehlen oder die Bildhauer Reinhard Mucha und Meuser.

Enge Verbindung zu Martin Kippenberger

Zu einigen Künstlern entstand enger Kontakt: Vor allem zu Martin Kippenberger, den Bärbel Grässlin Ende der Siebzigerjahre kennenlernte. Und weil sich Kippenberger nach ausschweifenden Jahren in Berlin mit Ende 20 eine Auszeit nehmen wollte, lud ihn die Unternehmerfamilie 1980 für ein Jahr in ihr Schwarzwälder Heim. Als „Sahara-Programm“ bezeichnete der Künstler seinen Vorsatz, in dieser Zeit ohne Alkohol zu leben. „Er suchte Familienanschluss, konnte schlecht allein sein – und kam wie ein Gewitter über uns“, erinnert sich Karola Kraus, die öfter die Schule schwänzte, um sich in stundenlangen Gesprächen von Kippenberger in die wilde Welt der Kunst einweihen zulassen, die mit der behüteten Welt ihrer Schwarzwälder Heimat so gar nichts gemein hat.

Schwester Sabine nötigte er zu Kneipentouren, die er bis in den frühen Morgen verlängerte – indem er der Grässlin-Tochter für jede zusätzliche halbe Stunde ein halbes Bild versprach. Mit ein Grund, warum das Werk des Enfant terrible der damaligen deutschen Kunstszene mit rund 300 Arbeiten aus allen Werkphasen die dominanteste Position in der Grässlin’schen Sammlung einnimmt. Arbeiten, die vor 30 Jahren oft nicht mehr als 500 Mark kosteten. Und heute schon mal sechsstellige Euro-Beträge wert sind.

„Wir freuen uns, wenn die von uns gesammelten Künstler erfolgreich sind und ihre Werke im Wert steigern“, sagt Karola Kraus, „aber als Kapitalanlage haben wir unsere Sammlung nie verstanden.“ Sondern als Versuch, Künstler mit einer gemeinsamen Geisteshaltung zu vereinen: „Sie denken konzeptuell, sind gesellschaftskritisch, ironisch, rebellisch, widersprechen oft dem bürgerlichen Verständnis von zeitgenössischer Kunst.“

Inhalt
Artikel auf einer Seite lesen
© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%