Corona-Impfstoff „Hersteller haben ein hohes Interesse, dass nichts passiert“

Quelle: imago images

Forschung im Schnellverfahren, Tests unter Zeitdruck: Auch für Versicherer ist die Entwicklung von Corona-Impfstoffen eine Herausforderung.

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„Es fühlte sich an wie ein riesiger Kater.“ Glenn Deshields erinnert sich an heftige Kopfschmerzen. Er sei wie erschlagen gewesen. Die Symptome seien aber zum Glück bald abgeklungen. Nur sein linker Arm habe mehrere Tage geschmerzt. Dass sich im Netz derzeit viele Menschen für Deshields Geschichte des Unwohlseins interessieren, hat einen besonderen Grund. Der 44-jährige Texaner hat als einer von mehr als 40.000 Freiwilligen an den klinischen Tests teilgenommen, mit denen die Pharmaunternehmen Biontech aus Deutschland und Pfizer aus den USA ihren Corona-Impfstoff auf Wirksamkeit überprüfen.

Während die ganze Welt ungeduldig auf die Zulassung von Impfstoffen wartet, und die Erfolgsnachrichten der vergangenen Tage große Hoffnungen auslösten, nehmen zigtausend Probanden für ihre Entwicklung gesundheitliche Beeinträchtigungen in Kauf. Die Nebenwirkungen kann ihnen niemand abnehmen, aber sie stehen nicht schutzlos da. Arzneimittelbehörden und Ethik-Kommissionen wachen darüber, dass strenge Vorsichtsmaßnahmen eingehalten werden. Für den Fall, dass doch unerwartete Komplikationen auftreten, haben die Hersteller Versicherungen mit hohen Deckungssummen abgeschlossen.

„Wir sind bei vielen Versuchen, von denen man jetzt teilweise auch in der Zeitung liest, der Versicherer,“ sagt der zuständige Abteilungsleiter Peter Tillmans bei HDI-Global. Der Industrieversicherer aus Hannover begleitet jedes Jahr zahlreiche klinische Studien und viele hunderttausend Freiwillige, die daran teilnehmen. Bang ist Tillmans dennoch nicht. „Das Geschäft mit den Probandenstudien verläuft seit vielen Jahren positiv.“ Die Versicherer müssten selten aktiv werden. „Die Hersteller haben ein hohes eigenes Interesse daran, dass bei den Versuchen nichts passiert.“

Die geringe Zahl an ernsten Erkrankungen oder sogar Todesfällen habe mit strengen Standards und detaillierten Studienprotokollen zu tun. Ohne die dürften solche Tests überhaupt nicht beginnen, sagt auch Tillmans Pendant Alfred Henneböhl beim Allianz-Industrieversicherer AGCS. Beide können sich noch an das Fiasko bei einer Studie 2006 in London erinnern. Dabei hatten - wie sich im Nachhinein heraus stellte - zu hohe Dosen eines von der Würzburger Biotechfirma TeGenero entwickelten und von Boehringer Ingelheim produzierten Antikörpers bei sechs gesunden Männern ein Multiorganversagen ausgelöst. Sie überlebten nur Dank einer intensivmedizinischen Betreuung. Daraufhin wurde festgelegt, dass Probanden insbesondere in der ersten Phase der Tests Wirkstoffe in zeitlichem Abstand verabreicht werden müssen.

Symptome wie die von Glenn Deshields gehören zu den Nebenwirkungen, auf die sie vorab hingewiesen werden. Im Zusammenhang mit einer Corona-Impfstoffstudie des Arzneimittelherstellers AstraZeneca und der Universität Oxford löste vor wenigen Wochen aber der Tod eines Probanden in Brasilien Sorgen aus, dass in dem Land Menschen leichtfertig Risiken ausgesetzt würden. Manche Medien dort warfen den Herstellern vor, sie würden ihre Landsleute als „Laborratten“ missbrauchen. In Brasilien wird viel getestet, da es dort zahlreiche Infizierte gibt und gleichzeitig viele Menschen in öffentlichen Transportmitteln oder beengten Wohnverhältnissen dem Virus ausgesetzt sind. Damit lässt sich die Wirksamkeit eines Impfstoffs überprüfen, ohne sie absichtlich anzustecken - was ethisch mindestens zweifelhaft wäre. Nach Überprüfung stellte sich heraus, dass der Verstorbene ein Placebo erhalten hatte. Sein Tod stand nicht in Zusammenhang mit der Studie.

von Jacqueline Goebel, Daniel Goffart, Rüdiger Kiani-Kreß, Hannah Krolle, Jürgen Salz, Heike Schwerdtfeger, Thomas Stölzel, Cordula Tutt, Silke Wettach

„Man muss sich natürlich im Klaren darüber sein, dass eine Probandenversicherung immer ein Erforschungs- und Erprobungsrisiko beinhaltet. Das liegt in der Natur der Sache,“ sagt Henneböhl. „Man möchte ja heraus bekommen, ob etwas Neues funktioniert.“ Doch egal, ob eine Studie in Deutschland oder den USA durchgeführt würde oder wie derzeit sehr viele Freiwillige in Brasilien an den Tests teilnähmen: „Grundsätzlich gelten für die Durchführung von klinischen Studien weltweit hohe Standards, die nach unserer Beobachtung auch eingehalten werden,“ betont Tillmans. „Der Imageschaden für das Unternehmen wäre sonst sehr groß. Abgesehen von möglichen Schadenersatzleistungen würde der daraus resultierende sinkende Börsenkurs dem Unternehmen noch viel mehr weh tun.“

Darüber hinaus forderten viele Zulassungsbehörden auch Tests in dem Land, in dem ein Medikament hinterher verkauft werde. „Hersteller können also nicht ohne weiteres ausschließlich in Billiglohnländern testen lassen, um eine Zulassung in Deutschland oder den USA zu erhalten.“ Um die Wirksamkeit eines Impfstoffs zuverlässig prognostizieren zu können, ist es sogar unabdingbar, möglichst viele verschiedene Ethnien und Altersgruppen mit oder ohne Vorerkrankungen in die Untersuchungen einzuschließen.

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