Finanzkrise Die Enteignung der Mittelschicht

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Demo gegen Hilfe für US-Versicherer AIG Quelle: rtr

Reagan versuchte, die mittleren Einkommensschichten durch Steuersenkungen zu entschädigen. Und tatsächlich – die Amerikaner glaubten wieder daran, dass sie ihren Aufstieg selbst in der Hand hätten. Doch die Steuersenkungen konnten die Einkommenseinbußen nicht abfedern, zumal im mittleren Segment. Unter Reagans Nachfolgern – Bush-Clinton-Bush – drohte der Glaube der Mittelschicht an ihren fortwährenden Wohlstand verloren zu gehen.

Irgendwo zwischen Weißem Haus, Notenbank und Wall Street erfanden Banken und US-Politik deshalb eine zweite Einnahmequelle für die Mittelschicht: Die sinkenden Arbeitseinkommen, so US-Ökonom Robert Shiller bereits vor einem Jahrzehnt, sollten durch steigende Spekulationsgewinne kompensiert werden.

Die Aufstiegsillusion

Die Idee erwies sich als so genial wie gefährlich: Der Aufstiegswillen der Mitte verwandelte sich in eine Aufstiegsillusion, das moralische Aufbauprogramm Reagans mündete in ein gigantisches Täuschungsmanöver. Das heute für Wertpapiere und Häuser eingesetzte Geld, so die Wahnvorstellung, werde dauerhaft schneller wachsen als die Wirtschaft – und sich bis ins hohe Alter hinein rentieren.

Offensichtlich glaubten die USA, mit den Selbstbeschwörungskräften des Geldes eine gültige Antwort auf den Sozialstaat europäischer Prägung gefunden zu haben. Doch heute bekommen die Steuerzahler die drei Jahrzehnte gestundete Rechnung für diese politisch gewollte Fehlkalkulation, für eine Sozialpolitik des schlanken Staates, die sich an Zinsen, Aktien und Hypotheken orientiert, mit einem Schlag nachgereicht. Und die amerikanische Mittelschicht stürzt ab in die harte Wirklichkeit.

In China und Russland hindert die Krise die Entstehung einer Mittelschicht

Fernab der westlichen Metropolen treffen die weltwirtschaftlichen Folgen dieses Absturzes auch jene Mittelschichten, die erst im Entstehen begriffen waren – in Wachstumsländern wie China oder Russland. Besonders gut zu beobachten ist das in den großen Städten im Osten des Landes: Dort haben viele Aufsteiger und Jungmanager mit ihren Ersparnissen in den vergangenen Jahren Wohnungen und Häuser gekauft. Deren Wert ist seit Herbst vergangenen Jahres kräftig gesunken. In der Hauptstadt Peking etwa sind die Immobilienpreise in den vergangenen Monaten zum Teil um 30 Prozent gefallen. Die Vermögen der neuen Mittelschicht, zu der schätzungsweise 150 Millionen Chinesen gehören, dürften in den kommenden Jahren deutlich langsamer wachsen. Schon 2008 hat etwa ein Viertel der rund 4,5 Millionen Hochschulabsolventen keine Jobs gefunden.

Dramatisch ist die Situation auch in Russland: Der Staat muss laut Weltbank seine Ausgaben drastisch erhöhen, um soziale Unruhen zu verhindern. Der Wirtschaftsabschwung drohe vier Millionen für sich selbst aufkommende Russen in Armut und Abhängigkeit zu stürzen. „Mich besorgt, dass die Krise gerade die Mittelschicht in Russland treffen könnte“, sagte in der vergangenen Woche Altkanzler Gerhard Schröder im „Zeit Magazin“. „Wenn es hier zu Unsicherheiten kommt, ist das nicht gut für Russland“, warnte Schröder.

Die Mittelschicht darf ihre Interessen einfordern

Kind auf Demo in Berlin Quelle: Laif

Verarmungsängste sind in Deutschland für viele noch fern – zu gut ausgebaut das soziale Netz, glauben viele. Doch für die Mittelschicht ist dieses Netz auch eine Belastung: Weit mehr als 50 Prozent der Sozialabgaben schultern die mittleren Einkommensgruppen.

Und die schiere Zahl der leistungsfähigen Durchschnittsverdiener nimmt dramatisch ab. Laut Zahlen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung hatten bereits 2006 nur noch 54 Prozent der Deutschen zwischen 70 und 150 Prozent des Durchschnittseinkommens zur Verfügung (2000: 62 Prozent). Die Zahl der Absteiger übertrifft die der Aufsteiger. Der Kölner Sozialstaats-Forscher Christoph Butterwegge spricht von einem „Paternoster-Effekt“, bei dem „die meisten leider nicht nach oben, sondern nach unten befördert werden“.

Ein Effekt, der auch jene trifft, die in der Mitte verbleiben, denn auf sie greift der Staat zu – so oder so. Wer wie die FDP und Teile der Union die Ausweitung des Niedriglohnsektors fordert und zur Eigenverantwortung ermahnt, wird nicht umhinkönnen, Geringverdiener noch stärker zu entlasten, damit diese für sich selbst vorsorgen können – eine Entlastung auf Kosten der Mitte. Und wer umgekehrt, wie die Linke und Teile der SPD, die Abschaffung der Rente mit 67 und die Erhöhung der Hartz-IV-Sätze fordert, müsste dabei schon so ehrlich sein zu sagen, dass er damit den Druck auf die Mitte erhöht.

Die Mittelschicht hat eben deshalb das Recht, forscher denn je von der Politik, für deren Segnungen sie bezahlt wie nie, ihre Interessen einzufordern – den intelligenten Umbau des Sozialstaats zum Beispiel und seine möglichst weitgehende Selbstbeschränkung auf ihm ureigene Aufgaben: die Gewährung von Sicherheit, Bildung und Gesundheit. Und eben nicht das Retten von immer mehr Unternehmen mit Milliarden vom Staat.

Der Umverteilungskampf kommt so oder so – da kann die Politik noch so hohe Schulden anhäufen, um ihn hinauszuzögern. Siehe USA: Dort hat die Mittelschicht abrupt gelernt, dass sie über ihre Lage systematisch getäuscht wurde. In Deutschland wird sie es noch lernen müssen.

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