Gesundheitssystem Krankenversicherte an der Schmerzgrenze

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Veraltete Gebührenordnungen

Seit einigen Jahren rechnen die Ärzte fast ausschließlich nach Regelhöchstsatz ab Quelle: dapd

Die Ärzte kontern, die Gebührenordnungen seien veraltet, spiegelten den medizinischen Stand der Achtzigerjahre wider. Steigende Personalkosten seien vor allem Folge der wuchernden Bürokratie. Entkommen kann ihr kaum ein Arzt. Michael Klock, Allgemeinarzt aus Siegen, hat sein Fax-Gerät stillgelegt, weil Kassen und Pflegeheime ihn mit Fax-Anfragen zugeschüttet hätten.

„Einmal sollte ich ausfüllen, welchen Neigungswinkel ich für den verstellbaren Bettrahmen eines Patienten empfehle“, sagt Klock. Kontrolle der medizinischen Qualität müsse sein, inzwischen sei deren Ausmaß aber untragbar.

Medicentrum Mönchengladbach, Montag, 10.30 Uhr.

In der gläsernen Gesundheitsfabrik, dem größten Facharztzentrum am Niederrhein, pendeln ältere Patienten auf fünf Etagen zwischen Praxen, Apotheke und Optiker. Im zweiten Stock bieten ein „Zahnarzt mit Herz“ und Internist Arno Theilmeier ihre Dienste an. „Zwei Drittel meiner Arbeitszeit verbringe ich inzwischen mit Formularen und Abrechnungen“, sagt Theilmeier.

Ihn ärgert dies besonders, weil er seine Abläufe clever optimiert hat. Tatsächlich ist im Wartezimmer ein Drittel der Stühle frei. „Bei mir sitzen Patienten nicht lange“, sagt er. Zehn Magen- und Darmspiegelungen im 30-Minuten-Takt hat er schon hinter sich; fünf bis zehn Minuten Eingriff, 20 bis 25 Minuten Sterilisation, Teilnarkose und Aufwachraum. Bis Mittag stehen zehn weitere Endoskopien auf dem Plan.

Das einzige Formular, das Theilmeier gern ausfüllt, ist eine Quittung für Kassenpatienten. Auf die hat er in Rot drucken lassen: Von dieser unten angeführten theoretischen Summe erhalte ich nur ...Euro. Wenn Sie dieses nicht mit Ihren Krankenkassenbeiträgen in Einklang bringen können, wenden Sie sich bitte an Ihre Krankenkasse oder an Ihren für das Budget verantwortlichen Bundestagsabgeordneten.

„Von einer Krankenkasse habe ich einen bösen Brief bekommen, ich würde die Patienten aufhetzen“, sagt Theilmeier. Ihn stört vor allem, dass die Mehrarbeit, die ihm die Kassenbürokratie aufbürde, nicht honoriert wird. Seit Langem lasse sich seine Praxis nicht mehr mit Kassenhonoraren finanzieren. Ohne die zwölf Prozent Privatpatienten könne er dichtmachen, sagt er.

Streichpotenzial der Krankenkassen
Karten von Krankenversicherungen Quelle: AP
Ein Mund Quelle: Robert Kneschke - Fotolia.com
Bonusheft Quelle: dpa
Gymnastik Quelle: Robert Kneschke - Fotolia.com
Akupunktur Quelle: gms
Eine Impfdosis des Mittels Pandemrix gegen Schweinegrippe Quelle: dpa
Geschientes Bein Quelle: Peter Atkins - Fotolia.com

PKV subventioniert GKV

Das deutsche Gesundheitssystem ist eine gigantische Umverteilungspumpe. Was Kliniken und niedergelassenen Ärzten an Geld fehlt, holen sie sich bei Privatpatienten wieder. Für vergleichbare Leistungen rechnen sie das 2,5- bis 3-Fache dessen ab, was sie bei Kassenpatienten verlangen. Gut verdienende privat Versicherte subventionieren so die Mitglieder der GKV.

Trotz Subventionen aus der PKV werden die Beiträge der gesetzlichen Kassen wohl eher steigen als sinken. Nach einer Studie des Kieler IGSF-Institut könnte sich wegen der vergreisenden Bevölkerung der Beitragssatz bis 2060 verdreifachen – wenn die Politik nicht eingreift. Institutschef Fritz Beske fordert Regeln, nach denen die Leistungen der GKV rationiert werden. Bisher tut sich jedoch wenig, weil niemand den Buhmann spielen will. Nach wie vor wachsen die Prämien von PKV und GKV schneller als die Einkommen. Gesundheitsökonom Jürgen Wasem sieht bei den Prämien schon bald „die Schmerzgrenze erreicht“.

Sparen müssen die Anderen

Allianz-Chef Diekmann gibt dem System die Schuld. Private Versicherer hätten, anders als die gesetzlichen Kassen, nicht die Möglichkeit, ihre Kosten über Leistungskürzungen zu senken. Richtig ist, dass die privaten Versicherer das leisten müssen, was sie ihren Kunden im Vertrag zugesichert haben. Was Diekmann nicht sagt: Die PKV-Anbieter dürfen dafür die Prämien erhöhen, ohne dass ihnen die Politik reinredet – anders als die GKV.

Dennoch wollen die privaten Versicherer vor allem bei anderen sparen. Sie setzen sich beispielsweise für Öffnungsklauseln bei Arzthonoraren ein. Die würden es ihnen erlauben, Medizinern weniger zu zahlen, als die Gebührenordnung vorschreibt. „Seit einigen Jahren rechnen die Ärzte fast ausschließlich nach Regelhöchstsatz ab“, sagt Folke Tedsen, Leiter der Leistungsabteilung bei der HanseMerkur. Der zulässige Spielraum werde komplett ausgereizt. Die Mediziner keilen zurück: „Es ist pervers, wenn die Versicherungsunternehmen für Provisionen von Vertretern genauso viel zahlen, wie für die Honorare von Ärzten“, sagt der Berliner Ärztekammerpräsident Günther Jonitz.

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