Pflege Der Lebensabend wird teurer als gedacht

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Pflegende Ehegatten werden weniger

Wenn die meisten Anbieter also nicht die Preise nach Belieben erhöhen können, können sie nur an den Ausgaben sparen. Das geht am ehesten bei den Altenpflegern, glauben fatal viele Betreiber und gefährden damit die Qualität der Pflege und die Zukunft ihrer Häuser. Vollzeitstellen werden der Flexibilität wegen durch solche auf Teilzeit ersetzt, feste durch befristete. Nicht einmal einen einheitlichen Tarifvertrag hat die Branche für ihre rund 800 000 Altenpfleger und -helfer, weit überwiegend Frauen. Das Resultat: Der Altenpflege geht ausgerechnet jetzt, da die Nachfrage steigt, das Personal aus – bis 2030 braucht sie rund 370.000 zusätzliche Mitarbeiter.

Mit denen möchte man oft nicht tauschen. 24 Stunden am Tag umsorgen sie alte Damen, die nicht immer dem Ideal der strickenden Oma aus der Augsburger Puppenkiste entsprechen, oder sie pflegen alte Herren, von denen mancher den zänkischen Alten aus der Muppet Show ähnelt. Tag für Tag erleben Krankenpfleger Krankheit, Demenz, Altersstarrsinn, Hinfälligkeit – und am Ende gewinnt doch immer der Sensenmann.

Dafür verdient eine Pflegehelferin im fünften Berufsjahr im öffentlichen Dienst 1960 Euro brutto plus 105 Euro Wechselschichtzulage und bis zu 25 Prozent Zuschlag für Nacht- oder Sonntagsdienste. Eine Pflegedienstleitung, die die Verantwortung für 150 Mitarbeiter trägt, soll sich mit maximal 3526 Euro brutto plus eventueller Schichtzulagen zufriedengeben. Das Ergebnis: Der Krankenstand ist überdurchschnittlich, viele wechseln in weniger nervenzehrende Jobs, und Auszubildende sind rar.

Exodus der Altenpfleger in Polen

Einen Pflegenotstand möchte keine Bundesregierung verantworten. Daher hat sie sich soeben auf einen Mindestlohn geeinigt, um den Job attraktiver zu machen. Ab Juli gilt: In Westdeutschland ist eine Stunde Altenpflege 8,50 Euro wert, im Osten 7,50 Euro. Bis Mitte 2013 sind es neun Euro im Westen und acht Euro im Osten, befristet bis 2014.

Auf den höheren Kosten wollen Pflegeanbieter wie Kursana, Pro Seniore oder Caritas nicht sitzen bleiben. Erhöhen sie die Preise, ohne dass die Pflegeversicherung mitzieht, geraten sie noch schneller an die Sozialämter. Sie fordern deshalb, dass die Beiträge zur Pflegeversicherung steigen. Das aber steht auf der Agenda der Bundesregierung derzeit weit hinten. Derweil rüstet man sich in Polen für den Exodus Tausender Altenpfleger und Krankenschwestern. In fünf Jahren verfünffachte sich dort die Zahl der Ausbildungsplätze auf jetzt fast 15.000 – die Chancen im Ausland sind gefragt.

Unternehmer Marseille schlägt einen anderen Ausweg vor: „Interessierte Hartz-IV-Empfänger könnten den Senioren freiwillig zu einem niedrigen Stundenlohn beim Einkaufen, Spazierengehen oder Essen helfen. Das würde die Lebensqualität der Menschen enorm verbessern.“ Mit drei Euro pro Stunde würde sich Marseille am Lohn beiteiligen, der noch zu definierende Rest müsse von der Arbeitsagentur kommen. Allein für sein Unternehmen brauche er 500 Männer und Frauen, die er zudem gerne fortbilden würde.

Verpasste Chance Pflegenoten

Das Wichtigste am Pflegeheim sind für die Bewohner die Qualität der medizinischen Versorgung und die menschliche Zuwendung – die steht und fällt mit dem Betreiber, nicht mit gesetzlichen Vorgaben. Doch die Unternehmen haben die Chance verpasst, sich über die sogenannten Pflegenoten einen guten Ruf zu erwerben und den Angehörigen die Suche nach einem Heim zu erleichtern.

Seit Juli 2009 prüft der Medizinische Dienst der Krankenkassen bundesweit und unangemeldet ambulante und stationäre Pflegeeinrichtungen und veröffentlicht seine Bewertung unter anderem im Internet. An den Richtlinien dafür waren die Branchenvertreter selbst beteiligt.

„Die Noten sagen aus, wie gut ein Haus verwaltet wird, aber nicht wie gut die Pflege ist. Sie gehen an den Bedürfnissen der Bewohner vorbei“, kritisiert Werner Schell. Er führt die Geschäfte des Pro Pflege Selbsthilfenetzwerks, eines Vereins für Pflegebedürftige und ihre Angehörigen. „Trotz aller Klagen hat sich seit Jahren nichts geändert: Dringend nötige Altenpflegerinnen werden durch billigere Hilfskräfte ersetzt, egal, ob die Häuser von Konzernen oder Kirchen betrieben werden. Die Heimaufsicht prüft nur den Stellenschlüssel, und der reicht zur Versorgung mit dem Nötigsten.“ Der Neusser hört täglich Leidgeschichten wie von der Altenpflegerin, die 45 Kranke und Todkranke alleine durch die Nacht begleitet.

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