Pflege Der Lebensabend wird teurer als gedacht

Keiner anderen Branche wachsen die Kunden so sicher zu wie der Pflege. Doch beim vermeintlich guten Geschäft mit dem Lebensabend hakt es oft. Wo die Probleme der Unternehmen liegen, welche Angebote für Senioren gute Chancen haben.

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Augustinum in Hamburg

Sushi à la carte, serviert vor feinstem Ausblick auf den Hamburger Hafen. Sonnenlicht fällt durch die mächtige Glaskuppel ins „Restaurant Elbwarte“– so tafeln gut betuchte Senioren im Augustinum-Wohnstift. Aber von ihnen gibt es nicht genug.

Die Zukunft ist Horst Horn. Der Witwer hat im Frühjahr seinen 80. Geburtstag gefeiert, sein malader Rücken zwingt ihn in den Rollstuhl, der charmante Rentner braucht Pflege der Stufe 1 und lebt in einem 23 Quadratmeter großen Apartment ganz oben in einem Potsdamer Plattenbau. Aus dem ehemaligen Haus für die Opfer des Faschismus wurde 2007 die Josephinen Wohnanlage, ein lichter, barrierefrei umgebauter Alterssitz für Senioren, die trotz knapper Rente die Angebote eines professionellen Altenheims nutzen möchten: Fürsorge und Pflege, Notruf Tag und Nacht, dazu Freizeitangebote vom Chor bis zur Skatrunde.

„Für mich ist es hier perfekt“, sagt der ehemalige Journalist Horn und blickt aus seinem Fenster über Potsdam im Sonnenuntergang, seine alte Wohnung liegt nur 300 Meter entfernt: „Mehr Platz brauche ich nicht, und ich kann die Türe hinter mir zumachen. Aber das Wichtigste im Alter, der Kontakt zu anderen Menschen, bleibt mir trotzdem erhalten.“

Die Renditen für viele Betreiber sind mau

Diese Ausgangslage ist derzeit das zukunftsträchtigste Geschäftsmodell für Unternehmen, die an einer alternden Gesellschaft verdienen möchten: Diese Menschen haben keine Reichtümer angehäuft und bescheidene Ansprüche, mögen nicht mehr alleine leben, sind aber fit genug für betreutes Wohnen und noch weit entfernt, ein Fall fürs Pflegeheim zu sein. Wer dieser Kundschaft preiswerte Angebote macht, kann sich reger Nachfrage sicher sein.

Erstaunlich: Obwohl die Kundenzahl durch die zunehmende Alterung der Bevölkerung von selbst wächst, tun sich viele Unternehmen schwer, Geld mit einer menschenwürdigen Pflege zu verdienen.

Schon jetzt wird in Deutschland der jährliche Umsatz in der ambulanten und stationären Pflege auf 30 Milliarden Euro geschätzt. Und dennoch sind die Renditen für viele Betreiber mau: „Der durchschnittliche Jahresüberschuss der Branche liegt bei 2,5 Prozent des Umsatzes“, sagt Ulrich Marseille, Vorstandsvorsitzender der Marseille-Kliniken, die auch die Potsdamer Josephinen Anlage betreiben: „Unsere Marge ist trotz steigender Nachfrage lädiert, weil der Einheitssatz der Pflegeversicherung die realen Preissteigerungen durch Personal-, Miet- oder Energiekosten nicht auffängt.“

Sozialämter schauen nur nach dem billigsten Anbieter

Das größte Problem im Geschäft mit dem Gebrechen ist die Bezahlung der Dienstleistung Pflege, egal, ob ambulant oder stationär. Die reglementiert der Staat über drei Pflegestufen, nach denen die für alle Sozialversicherten verpflichtende Pflegeversicherung einen Teil der Kosten übernimmt. Den Rest müssen Patient oder Angehöriger zahlen. Da immer mehr Kranke und Kinder die stetig steigenden Kosten nicht tragen können, müssen die Sozialämter einspringen. Die schauen längst nach dem billigsten Anbieter, der dann Spitz auf Knopf kalkulieren muss. Wirklich verdienen können die Anbieter nur, indem sie gut situierten Rentnern schöne Häuser und allerlei Service-Dienstleistungen bieten.

Andere Probleme haben sich die Anbieter selbst eingebrockt: Regionale Überkapazitäten wie in Rheinland-Pfalz oder Schleswig-Holstein stehen unerfüllter Nachfrage zum Beispiel im Osten gegenüber. Zugleich verschmähen viele Anbieter lukrative Alternativen. So kommt der Bau von Anlagen für betreutes Wohnen mangels Investoren nicht flächendeckend in dem Maß voran, in dem die Nachfrage steigt. Das gilt auch für altersgerechten Umbau bestehender Wohnungen, bei denen es an mehr als einem Treppenlift fehlt.

Zudem findet die Branche kaum noch Altenpfleger, weil deren Bezahlung im Verhältnis zu dem, was sie bei Kranken, Verwirrten und Sterbenden leisten müssen, oft ein Armutszeugnis ist. So verdient eine Altenpflegerin im öffentlichen Dienst in der Endstufe 15. Berufsjahr 2737 Euro brutto plus Zuschläge. Dumm nur: Vollzeitverträge gibt es immer seltener, und schlechter bezahlte Helferinnen müssen die Tätigkeiten der gut ausgebildeten Altenpflegerinnen übernehmen. Ein Tarifvertrag für die gesamte Branche existiert nicht. Als würde das alles nicht reichen, ist auch die Qualität der Pflege umstritten.

Pflegekosten Quelle: Caepsele_Ortwein/Swierczyna

Doch trotz aller Schwierigkeiten halten selbst ausländische Investoren den deutschen Markt für aussichtsreich, wenn man die Pflege nur professionell genug organisiert und neue Marktchancen nutzt. Rund drei Milliarden Euro Eigen- und Fremdkapital wollen heimische und internationale Investoren deshalb in den kommenden fünf Jahren hierzulande investieren, erwartet die Bad Homburger Unternehmensberatung Avivre Consult. Etwa ein halbes Dutzend institutionelle Fondsanbieter spähen schon Kaufgelegenheiten aus.

Seit die Finanzkrise andere Anlagemöglichkeiten wie Aktien, Anleihen oder Gewerbeimmobilien unattraktiv gemacht hat, aber dennoch viel Geld im Markt ist, steigt das Interesse an der Pflegewirtschaft. Denn zumindest aus Sicht der Investoren ist das Schöne am Alter: Gepflegt werden muss fast immer, egal, ob Finanzmärkte kollabieren oder die Konjunktur lahmt.

Die Ausgangslage ist zwar für die Gesellschaft hoch problematisch, aber für die Pflegebranche günstig: Schon in 15 Jahren sollen laut Prognosen doppelt so viel Ältere ab 65 Jahren in Deutschland leben als heute. Schon jetzt sind 2,25 Millionen Bundesbürger dem Leben alleine nicht mehr gewachsen. 1,5 Millionen werden daheim betreut – eine Million ausschließlich von den Angehörigen –, mehr als 700.000 Menschen stationär in rund 11.000 Heimen. Und es werden noch viel, viel mehr: Die Deutsche Bank rechnet in einer Studie mit mehr als 5,5 Millionen über 85-Jährigen im Jahr 2050. In diesem Alter beginnt laut Statistik der Aufenthalt im Pflegeheim.

Oma als Big Business

Zudem steigt die Zahl der hilfsbedürftigen Demenzkranken. Sie füllen zunehmend die Häuser, die für sie oft gar nicht passen, ebenso wie jüngere Schlaganfallerkrankte oder Unfallopfer. Zugleich sinkt die Zahl der hilfreichen Kinder, und die sind oft selbst schon um die 60 Jahre, wenn die Eltern hinfällig werden. Eine Erleichterung könnte die angedachte „Pflegezeit“ verschaffen, wenn sie denn kommt: Maximal zwei Jahre sollen Angehörige ihre Arbeitszeit auf bis zu 50 Prozent reduzieren können, aber 75 Prozent ihres Gehalts beziehen. Zum Ausgleich müssten sie später wieder voll arbeiten bei 75 Prozent des Gehalts, so der Gesetzentwurf von Familienministerin Kristina Schröder (CDU).

Die Bandbreite unter den Seniorenheimen reicht von der familienbetriebenen Pension bis hin zu Postkarten-Idyllen wie die der Augustinum-Kette, die sich als Vier-Sterne-Hotelbetrieb mit allen Serviceleistungen vom täglichen Sportangebot bis zur Pflegestufe 3 verstehen.

694 Euro zahlt Mieter Horn in Potsdam für sein Apartment mit 23 Quadratmetern samt Reinigung, TV, Mittagessen und Notrufdienst. Ein Bewohner des Hamburger Augustinums überweist für ein 1,5-Zimmer-Apartment mit 38 Quadratmetern mit vergleichbaren Leistungen monatlich 2211 Euro Miete. Zudem gewährt er dem Augustinum ein Wohndarlehen von 24.000 Euro – für das ihm monatlich 80 Euro Zinsen gutgeschrieben werden.

Wartelisten für die teuersten Wohnungen

Die Augustinum-Kette mit ihren 22 Häusern agiert als gemeinnützige GmbH. 1954 gründete sie ein Pfarrer zwecks Errichtung eines Schülerheims, heute ist sie Mitglied im Diakonischen Werk der evangelischen Kirche. Sie betreibt nicht nur Altenheime, sondern auch eine Schule für Hörgeschädigte sowie heilpädagogische Einrichtungen.

 Der Markt spreizt sich immer mehr: Einerseits suchen Angehörige und Sozialämter händeringend nach soliden und bezahlbaren Lösungen wie in Potsdam. Andererseits freut sich Augustinum-Sprecher Matthias Steiner: „Die längsten Wartelisten bestehen bei uns für die teuersten Wohnungen.“ Bisher liegt der Marktanteil der Edel-Seniorenimmobilien allerdings erst bei rund vier Prozent. Studien zeigen aber, dass die enormen Preisunterschiede eher aufs Ambiente und die Zusatzangebote denn auf die Qualität der Pflege schließen lassen.

Zahl der Pflegebedürftigen

Die wichtigsten Heimbetreiber sind evangelische und katholische Kirche sowie gemeinnützige Verbände wie die Arbeiterwohlfahrt. Große private Anbieter sind die Pro Seniore AG, die dem Saarbrücker Geschäftsmann Hartmut Ostermann gehört, Kursana aus der Dussmann-Gruppe oder die börsennotierte Curanum AG. Sie kennt nur kaum einer.

Kein Wunder, denn die Branche ist aus Sicht von Unternehmensberatern noch viel zu atomisiert, um durch gemeinsamen Einkauf, effizientere Prozesse oder mehr Immobilien Marktmacht für eine höhere Marge nutzen zu können. 2008 wurden rund 6100 Heime gemeinnützig betrieben, 4300 von privaten Anbietern und gerade mal 635 von Kommunen.

Selbst Deutschlands größte private Pflegeheimkette Pro Seniore kommt mit 17.500 Plätzen in 106 Einrichtungen nur auf einen Marktanteil von 2,4 Prozent. Bei Fragen zu Umsatz und Marge lässt das Unternehmen zugeknöpft ausrichten, es sei nicht zur Veröffentlichung verpflichtet, Eigner Ostermann stehe für Fragen nicht zur Verfügung. Häuser- und Belegungszahlen enden auf der firmeneigenen Homepage im Jahr 2001.

Schwierige Lage

Kursana ist auskunftsfreudiger: Mit ihren 90 Einrichtungen und rund 10.050 Bewohnern in Deutschland erzielte das Unternehmen 2009 rund 279 Millionen Euro Umsatz – 8,6 Prozent mehr als 2008. Ihren Gewinn verschweigen die Berliner.

Die börsenotierte Curanum erwirtschaftete 2009 rund 259 Millionen Euro Umsatz mit 7800 Pflegeplätzen und 1600 Apartments für betreutes Wohnen, der Gewinn nach Steuern lag bei 5,8 Millionen Euro. Auch die Münchner machen trotz Aktionären wie der Norddeutschen Landesbank oder den US-Finanzinvestor Guy Wyser-Pratte keine großen Sprünge.

Die Lage der Branche ist schwierig, Wirtschaftsexperten schätzen, dass rund 13 Prozent der Heime – vor allem die kleinen – von Insolvenz bedroht sind. Die wichtigsten Probleme im Detail:

Jeder Alters- oder Pflegeheimbetreiber kann zwar grundsätzlich frei kalkulieren. Der staatliche Zuschuss durch die Pflegeversicherung ist jedoch begrenzt und wird bundesweit einheitlich aus den Kosten für Pflege, Unterkunft, Verpflegung, einem Investitionsbeitrag und einem Ausbildungsbeitrag berechnet. Die tatsächlichen Kosten decken sie bei Weitem nicht. Sie ist eben keine Vollkaskoversicherung.

Die Pflege verschlingt Oma ihr klein Häuschen

Beispiel Bayern: Pflegestufe 1 schlägt im Caritas-Altenzentrum in Gau-Algesheim, keinem Luxuswohnsitz, mit 2457 Euro Kosten zu Buche, die Pflegekasse trägt davon 1023 Euro. Bei der Pflegestufe 3 für Schwerkranke sind es 3513 Euro, abzüglich 1510 Euro Pflegekasse klafft eine Lücke von rund 2000 Euro. Die zahlen Patient oder Angehörige selbst.

Im wahren Leben bedeutet das: Omas Pflege verschlingt Oma ihr klein Häuschen. So reicht der Verkauf eines typischen Einfamilienhauses aus den Sechzigerjahren in Wuppertal gerade für sieben Jahre Pflege der unter schwerer Osteoporose leidenden Mutter und des demenzkranken Vaters in einem bescheidenem Stift. Das kalkulieren die im Westerwald lebende Tochter Carolin Most* und ihr Mann Peter gerade erschrocken durch. „Wir bekommen wohl nicht mehr als 170 000 Euro für das alte Haus, haben aber mit viel mehr gerechnet“, sagt der Schwiegersohn, von Beruf Kaufmann und voll berufstätig wie seine Frau.

Die Mosts wissen: Ist das elterliche Vermögen aufgezehrt – und mehr als das Haus ist nach zwei Jahren ambulanter Betreuung von Mutter und Vater nicht mehr übrig –, fordert das Sozialamt von ihnen den Elternunterhalt. Ein ehrliches Wort aus Berlin täte daher Not: Entweder die Deutschen hüten ihre Eltern selbst, werden zu mehr privatem Sparen für die Pflege im Alter gezwungen, oder die Beiträge zur Pflegeversicherung – derzeit 1,95 Prozent des Bruttogehalts, Kinderlose zahlen 2,2 Prozent – müssen erhöht werden.

*Name geändert.

Pflegende Ehegatten werden weniger

Wenn die meisten Anbieter also nicht die Preise nach Belieben erhöhen können, können sie nur an den Ausgaben sparen. Das geht am ehesten bei den Altenpflegern, glauben fatal viele Betreiber und gefährden damit die Qualität der Pflege und die Zukunft ihrer Häuser. Vollzeitstellen werden der Flexibilität wegen durch solche auf Teilzeit ersetzt, feste durch befristete. Nicht einmal einen einheitlichen Tarifvertrag hat die Branche für ihre rund 800 000 Altenpfleger und -helfer, weit überwiegend Frauen. Das Resultat: Der Altenpflege geht ausgerechnet jetzt, da die Nachfrage steigt, das Personal aus – bis 2030 braucht sie rund 370.000 zusätzliche Mitarbeiter.

Mit denen möchte man oft nicht tauschen. 24 Stunden am Tag umsorgen sie alte Damen, die nicht immer dem Ideal der strickenden Oma aus der Augsburger Puppenkiste entsprechen, oder sie pflegen alte Herren, von denen mancher den zänkischen Alten aus der Muppet Show ähnelt. Tag für Tag erleben Krankenpfleger Krankheit, Demenz, Altersstarrsinn, Hinfälligkeit – und am Ende gewinnt doch immer der Sensenmann.

Dafür verdient eine Pflegehelferin im fünften Berufsjahr im öffentlichen Dienst 1960 Euro brutto plus 105 Euro Wechselschichtzulage und bis zu 25 Prozent Zuschlag für Nacht- oder Sonntagsdienste. Eine Pflegedienstleitung, die die Verantwortung für 150 Mitarbeiter trägt, soll sich mit maximal 3526 Euro brutto plus eventueller Schichtzulagen zufriedengeben. Das Ergebnis: Der Krankenstand ist überdurchschnittlich, viele wechseln in weniger nervenzehrende Jobs, und Auszubildende sind rar.

Exodus der Altenpfleger in Polen

Einen Pflegenotstand möchte keine Bundesregierung verantworten. Daher hat sie sich soeben auf einen Mindestlohn geeinigt, um den Job attraktiver zu machen. Ab Juli gilt: In Westdeutschland ist eine Stunde Altenpflege 8,50 Euro wert, im Osten 7,50 Euro. Bis Mitte 2013 sind es neun Euro im Westen und acht Euro im Osten, befristet bis 2014.

Auf den höheren Kosten wollen Pflegeanbieter wie Kursana, Pro Seniore oder Caritas nicht sitzen bleiben. Erhöhen sie die Preise, ohne dass die Pflegeversicherung mitzieht, geraten sie noch schneller an die Sozialämter. Sie fordern deshalb, dass die Beiträge zur Pflegeversicherung steigen. Das aber steht auf der Agenda der Bundesregierung derzeit weit hinten. Derweil rüstet man sich in Polen für den Exodus Tausender Altenpfleger und Krankenschwestern. In fünf Jahren verfünffachte sich dort die Zahl der Ausbildungsplätze auf jetzt fast 15.000 – die Chancen im Ausland sind gefragt.

Unternehmer Marseille schlägt einen anderen Ausweg vor: „Interessierte Hartz-IV-Empfänger könnten den Senioren freiwillig zu einem niedrigen Stundenlohn beim Einkaufen, Spazierengehen oder Essen helfen. Das würde die Lebensqualität der Menschen enorm verbessern.“ Mit drei Euro pro Stunde würde sich Marseille am Lohn beiteiligen, der noch zu definierende Rest müsse von der Arbeitsagentur kommen. Allein für sein Unternehmen brauche er 500 Männer und Frauen, die er zudem gerne fortbilden würde.

Verpasste Chance Pflegenoten

Das Wichtigste am Pflegeheim sind für die Bewohner die Qualität der medizinischen Versorgung und die menschliche Zuwendung – die steht und fällt mit dem Betreiber, nicht mit gesetzlichen Vorgaben. Doch die Unternehmen haben die Chance verpasst, sich über die sogenannten Pflegenoten einen guten Ruf zu erwerben und den Angehörigen die Suche nach einem Heim zu erleichtern.

Seit Juli 2009 prüft der Medizinische Dienst der Krankenkassen bundesweit und unangemeldet ambulante und stationäre Pflegeeinrichtungen und veröffentlicht seine Bewertung unter anderem im Internet. An den Richtlinien dafür waren die Branchenvertreter selbst beteiligt.

„Die Noten sagen aus, wie gut ein Haus verwaltet wird, aber nicht wie gut die Pflege ist. Sie gehen an den Bedürfnissen der Bewohner vorbei“, kritisiert Werner Schell. Er führt die Geschäfte des Pro Pflege Selbsthilfenetzwerks, eines Vereins für Pflegebedürftige und ihre Angehörigen. „Trotz aller Klagen hat sich seit Jahren nichts geändert: Dringend nötige Altenpflegerinnen werden durch billigere Hilfskräfte ersetzt, egal, ob die Häuser von Konzernen oder Kirchen betrieben werden. Die Heimaufsicht prüft nur den Stellenschlüssel, und der reicht zur Versorgung mit dem Nötigsten.“ Der Neusser hört täglich Leidgeschichten wie von der Altenpflegerin, die 45 Kranke und Todkranke alleine durch die Nacht begleitet.

Akademiker pflegen selten

„Pflegenoten leisten nach heutigem Wissen sehr wohl einen Beitrag zur ersten Differenzierung und Qualitätsbeurteilung. Doch die Anbieter verschenken die Chance damit für sich zu werben“, sagt Karin Siebels, Expertin für Pflegeimmobilien bei der HSH Real Estate. „Doch da liegt der Wettbewerbsvorteil: Transparenz schaffen, mit Qualität überzeugen und sich so von der Konkurrenz positiv unterscheiden.“

In Anbetracht magerer Renditen im Kerngeschäft suchen die Manager der Pflegewirtschaft Neuland. Denn auch das von den Konzernen oft mitbetriebene Geschäft mit Reha-Kliniken zur Wiederherstellung Kranker nach einem Klinikaufenthalt liegt darnieder in Zeiten des Spardiktats bei den Krankenkassen.

Ein aussichtsreiches Feld bieten Anlagen für betreutes Wohnen. Die Kundschaft verlangt danach, weil viele im Alter zwar unterstützt werden, aber unabhängig bleiben wollen. Für Investoren ist der Markt lukrativer und risikoärmer als der für Pflegeimmobilien. Die Mieten für solche Wohnungen liegen schon jetzt am oberen Rand des ortsüblichen Mietspiegels, Serviceleistungen gehen extra. Die Nachfrage steigt in Anbetracht der zunehmenden Alterung. Keine staatlichen Auflagen wie bei einem Pflegeheim – zum Beispiel Stellenschlüssel und Dokumentationswahn – verderben die Rendite.

Concierge-Service wie im Hotel

Zudem gelten solche Senioren als gern gesehene Mieter: Sie zahlen zuverlässig und lärmen nicht. Die privaten Anbieter haben das früher erkannt als die Wohlfahrtsverbände: Kursana, Curanum, Marseille-Kliniken – alle bauen das Geschäft mit der zahlungsfähigen Klientel und dem überschaubaren Risiko aus.

Man kaufe in Städten mit vielen Senioren innenstadtnah günstige Immobilien, die aus vielen kleinen Wohnungen bestehen. Man vergrößere das Bad und mache es barrierefrei, verkleinere die Küche, ergänze das Erdgeschoss der Wohnanlage um Restaurant, Physiotherapie, Fußpflege und eine 24 Stunden besetzte Zentrale für alle Fälle. Dazu bietet die eigene Tochterfirma Servicedienste – und vorausschauende Senioren stürmen die Wartelisten.

Hochpreis-Anbieter wie Augustinum oder die auch in Deutschland aktive US-Kette Sunrise bieten das Gleiche in der Edelvariante: elegante Immobilien mit Ein- und Zwei-Zimmer-Apartments von 35 bis 80 Quadratmetern, dazu ein Concierge-Service wie im Hotel und – besonders wichtig – gute Küche. Die Qualität des Essens sei tägliches Gesprächsthema im Haus, warnt ein Münchner Betreiber.

Teure Heimplätze sind oft nicht nötig

Was bei Augustinum funktioniert, ist auch ein aussichtsreiches Geschäftsmodell für bestehende Wohnungen. „Die Zukunft liegt im seniorengerechten Wohnen zu Hause“, sagt Bernhard Heiming vom Bundesverband Freier Immobilien- und Wohnungsunternehmen. Aus einer Hand bekommt die Kundschaft dabei den barrierefreien Umbau ihrer Wohnung – sowohl für Miet- als auch für Eigentumswohnungen – und oft auch Serviceleistungen wie Essen, Reinigung oder ein Hausnotruf-System. Manche Anbieter arbeiten zwecks Komplettpaket mit ambulanten Pflegediensten zusammen.

Bisher sind nur fünf Prozent der Haushalte mit Bewohnern, die älter als 65 Jahre sind, barrierefrei, so das Bundesbauministerium. Mit 800 000 umbaubedürftigen Wohnungen rechnet Heimings Verband. „Dieses Modell wird das einzige sein, was alte Menschen auch ohne großes Vermögen bezahlen können“, sagt Heiming. Bei solchen Hilfsangeboten für den Alltag seien teure Heimplätze oft nicht nötig. „Wir werden einen Run erleben“, prophezeit er. Denn ein Umzug auf die alten Tage belastet viele Ältere; die Vorstellung, die gebrechliche Mutter oder den verwirrten Vater zu sich zu holen, viele Jüngere.

Für den Run werden schon die Akademiker-Eltern und -Kinder sorgen. Denn mit dem Generationenvertrag wird es vor allem bei ihnen nichts. Die von den Soziologen als „liberal-bürgerlich“ oder „konservativ-bürgerlich“ klassifizierte Schicht seilt sich bei der Pflege ab – weil sie beruflich verhindert ist oder weil sie es sich leisten kann.

„Heimsog“ nennen die Betreiber von betreutem Wohnen, Alten- und Pflegeheimen euphemistisch dieses Phänomen, das ihnen die Zukunft sichert.

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