Rekordzahl Immer mehr Deutsche gehen vorzeitig in Rente

In Deutschland gehen immer mehr Menschen vorzeitig in Rente - trotz der damit verbundenen finanziellen Einbußen. Wenn die Rente mit 67 kommt, dürfte sich der Trend weiter verstärken.

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Gründe für die Frührente
An letzter Stelle stehen die Krankheiten des Kreislaufsystems, also zum Beispiel Herzinfarkte, Schlaganfälle und Durchblutungsstörungen. An ihnen erkrankten im Jahr 2010 18.068 Personen (10,0 Prozent). Interessant: mehr als die Hälfte der Erkrankten sind männlichen Geschlecht - gleich 13.023 Männer. Quelle: dpa
Die Anzahl der Personen, die an früheren Krankheiten wiedererkrankten, liegt dagegen bei 24.036 Personen (13,3 Prozent), die fast gleichmäßig auf Männer und Frauen verteilt sind. Die Veränderung zu 2007 ist marginal - die Zahl stieg um 3,5 Prozent im Vergleich zu 2007. Quelle: Fotolia
Dagegen mussten 26.494 Personen (14,7 Prozent) wegen Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes ihre Arbeit ruhen lassen. Das waren 2,1 Prozent mehr als im Jahr 2007, die an Arthritis, Rückenschmerzen oder Bandscheibenvorfällen leiden mussten. Quelle: Fotolia
Die übrigen Diagnosen, also andere Krankheiten, haben 41.206 Personen (22,8 Prozent) aus dem Beruf geworfen. Auch hier ist die Veränderung zum Jahr 2007 minimal - ein Plus von 2,8 Prozent. Quelle: dpa
Der Hauptgrund für die frühzeitige Pensionierung: Psychische Krankheiten und Verhaltensstörungen. Darunter fallen Erkrankungen wie Depression und Burn-Out. Gleich 70.946 Menschen (39,3 Prozent) mussten deswegen 2010 die Arbeit ruhen lassen. Gegenüber 2007 ist die Zahl dramatisch gestiegen - um satte 31,7 Prozent. Quelle: Fotolia

Schon Ende 2011 meldete die Deutsche Rentenversicherung Rekordzahlen bei der Frührente: So waren im Jahr 2010 von insgesamt 674.000 Neu-Rentnern 47,5 Prozent (320.000 Menschen) Vorruheständler. Diese Zahl ist jetzt noch einmal gestiegen - wie allerdings auch die Zahl derer, die erstmals Rente bezogen haben. Prozentual ist der Anstieg also eher gering: 48,1 Prozent der Neu-Ruheständler nahmen 2011 Abzüge in Kauf und verabschiedeten sich vorzeitig in den Ruhestand. In konkreten Zahlen gingen 2011 knapp 700.000 Menschen in den Ruhestand, davon quittierten fast 337.000 vorzeitig den Dienst.

Betrachtet man die Entwicklung über einen längeren Zeitraum hinweg, ist der Anstieg deutlich stärker. So gab es im Jahr 2005 rund 41,2 Prozent Frührentner, 2000 dagegen waren es nur 14,5 Prozent. Experten sehen in der steigenden Zahl der Frühverrentungen und der steigenden Belastung am Arbeitsplatz einen Zusammenhang. So zeigte der erst in dieser Woche erschienene Stressreport 2012, dass sich rund jeder zweite deutsche Arbeitnehmer überfordert fühlt und dauerhaft unter Stress leidet. Die Krankschreibungen wegen stressbedingter psychischer Erkrankungen seien im Laufe der letzten Jahre stark gestiegen. Ganze 41 Prozent der Frühverrentungen haben psychische Erkrankungen als Ursache.

Was die Deutschen bei der Arbeit krank macht
Die Liste prominenter Namen ist lang: Ex-SPD-Chef Matthias Platzeck, Schauspielerin Renée Zellweger, Fernsehkoch Tim Mälzer, Skispringer Sven Hannawald, Profifußballer Sebastian Deisler und auch die Medienwissenschaftlerin Miriam Meckel. Ihre Gemeinsamkeit: Wegen völliger Erschöpfung zogen sie die Reißleine. Aber es trifft nicht nur Prominente. Psychische Erkrankungen sind der Grund Nummer eins, warum Arbeitnehmer eine Auszeit brauchen - oder sogar in Frührente gehen. Ganze 41 Prozent der Frühverrentungen haben psychische Erkrankungen als Ursache. Diese nahmen laut Krankenkasse DAK-Gesundheit 2012 um vier Prozent zu, rückten erstmals auf Platz zwei aller Krankschreibungen hinter Muskel- und Skeletterkrankungen. Und die Ursachen für diese Krankheiten der Seele liegen oft im Job. Quelle: Fotolia
Die globalisierte Arbeitswelt, die internationalen Verflechtungen der Konzerne, der Konkurrenzdruck: All das zusammen erhöht die Anforderungen an die Beschäftigten. Ihre Arbeitstage werden immer länger, auch an den Wochenenden sitzen sie im Büro oder zu Hause am Schreibtisch, überrollt von einer Lawine von E-Mails. In dieser Tretmühle sind viele dann ausgelaugt, überfordert, verzweifelt, kraftlos. Der Akku ist - salopp gesprochen - leer. Quelle: Fotolia
Die Arbeitsbelastung führe zudem auch immer öfter zu Krankheiten, heißt es weiter. Klagten 2006 noch 43 Prozent über Rückenschmerzen waren es im vergangenen Jahr bereits 47 Prozent. Während 2006 nur 30 Prozent unter stressbedingten Kopfschmerzen litten, waren es 2012 bereits 35 Prozent. Die Anzahl der von nächtlichen Schlafstörungen geplagten Arbeitnehmern stieg von 20 auf 27 Prozent. Quelle: Fotolia
Am häufigsten belastet fühlen sich die Beschäftigten - 58 Prozent - nach dem neuen "Stressreport Deutschland 2012 " der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) durch Multitasking, also das Sich-Kümmern-Müssen um mehrere Aufgaben gleichzeitig. Quelle: Fotolia
Jeder zweite der rund 18000 Befragten (52 Prozent) arbeitet unter starkem Termin- und Leistungsdruck. Laut BAuA hat sich der Anteil der von diesen Stressfaktoren betroffenen Beschäftigten auf dem relativ hohen Niveau des vergangenen Jahrzehnts stabilisiert. Jeder vierte (26 Prozent) lässt sogar die nötigen Ruhepausen ausfallen, weil er zu viel zu tun hat oder die Mittagspause schlicht nicht in den Arbeitsablauf passt. Quelle: Fotolia
Immerhin 43 Prozent klagen aber über wachsenden Stress innerhalb der vergangenen zwei Jahre. Außerdem wird fast jeder Zweite (44 Prozent) bei der Arbeit etwa durch Telefonate und E-Mails unterbrochen, was den Stress noch erhöht. Quelle: Fotolia
Insgesamt 64 Prozent der Deutschen arbeiten auch samstags, 38 Prozent an Sonn- und Feiertagen. So kommt rund die Hälfte der Vollzeitbeschäftigten auf mehr als 40 Arbeitsstunden pro Woche, rund ein Sechstel arbeitet sogar mehr als 48 Stunden. Und das ist nicht gesund: Seit Längerem weisen Wissenschaftler auf einen Zusammenhang zwischen langen Arbeitszeiten, psychischer Belastung und gesundheitlichen Beschwerden hin: Je mehr Wochenarbeitsstunden, desto anfälliger. Bei Menschen, die 48 Stunden und mehr pro Woche arbeiten, ist die Gefahr für physische und psychische Erkrankungen am höchsten. Quelle: Fotolia

Dazu passt, dass Menschen, die in zwar sehr stressigen, aber dennoch eher schlechter bezahlten Branchen tätig sind, besonders häufig die Frührente in Anspruch nehmen. So waren viele der Vorruheständler im Jahr 2011 Krankenpfleger, Erzieher und Arbeitnehmer aus dem Dienstleistungssektor.

Allerdings sind die Abschläge, die die Vorruheständler in Kauf nehmen müssen, nicht mehr ganz so hoch wie noch im Jahr 2010. Wer vor drei Jahren vorzeitig in Rente ging, musste monatlich auf rund 113 Euro verzichten. 2011 waren es durchschnittlich 109 Euro weniger Altersruhegeld.

Gefahr der Altersarmut

Hier ist die Rentenangst am größten
Platz 10Von den Menschen, die im Ernährungswesen tätig sind, also zum Beispiel Bäcker, Diätassistenten oder Fitnessberater, sorgen sich 41 Prozent besonders stark um ihre finanzielle Zukunft. Quelle: dapd
Platz 9Bei Bank- und Versicherungsfachleuten glauben 42 Prozent, dass ihre gesetzliche Rente später nicht zum Leben reichen wird. Quelle: Fotolia
Platz 843 Prozent der Bürger, die in sozialen Berufen beschäftigt sind, also zum Beispiel Pädagogen oder Sozialarbeiter, fürchten um ihre Versorgung im Alter. Quelle: dpa
Platz 7Von den Beschäftigten in der Metallkonstruktion (z.B. Industriemechaniker) oder Installation (z.B. Heizungsinstallateur) glauben 45 Prozent nicht, dass ihre Rente später ausreichen wird. Quelle: dapd
Platz 6Wer als Hilfsarbeiter, also etwa als Kellner, tätig ist, sorgt sich oft um seine Zukunft; 46 Prozent fürchten um ihre finanzielle Absicherung im Rentenalter. Quelle: AP
Platz 5Ebenfalls 46 Prozent der Beschäftigten im Gesundheitsdienst, also etwa Kranken- oder Altenpfleger, sorgen sich um ihre gesetzliche Rente. Quelle: dpa
Platz 4Von den Bürgern, die in Hotels, Gaststätten, oder in der Hauswirtschaft arbeiten, glauben 49 Prozent nicht an eine ausreichende gesetzliche Altersvorsorge. Quelle: AP

Die Abschläge für Frührentner gibt es übrigens erst seit 1992, spürbar wurden sie allerdings erst nach 1996. Bis dahin konnten Menschen ab 60 in den Ruhestand gehen, ohne finanzielle Einbußen zu fürchten. Derzeit gehen Frührentner statistisch gesehen drei Jahre und zwei Monate vor den magischen 65 in den Ruhestand. Das Bundessozialministerium erklärte dazu, dass es bei einer älter werdenden Gesellschaft und mehr Frauen in Arbeit nur natürlich sei, dass es mehr Frührentner gebe. "Die Zunahme ist alleine auf die Entwicklung bei den Frauen zurückzuführen", sagte ein Sprecher. Bei den Männern sei der Trend seit 2005 stark rückläufig.

Ruhestand unter Palmen: Geht das?

Insgesamt hätten sich die Chancen Älterer deutlich verbessert. So sei die Beschäftigungsquote der 60- bis 64-Jährigen von 16,6 Prozent (2005) auf 26,4 Prozent (2011) gestiegen. Auch im Jahr 2012 ging es laut Angaben der Bundesagentur für Arbeit (BA) noch einmal hoch auf 29,3 Prozent. Bei den 64-Jährigen sah es deutlich schlechter aus. Von ihnen hatten im Juni vergangenen Jahres nur 14,2 Prozent einen Job. Wer ab einem gewissen Alter erst einmal arbeitslos geworden ist, findet nur sehr schwer wieder einen neuen Job, bestätigt ein Sprecher der BA. Da ist die Frührente schlicht die Alternative zur Arbeitslosigkeit. Viele haben Haus oder Wohnung abbezahlt, eine private Altersvorsorge und können die Abschläge auch finanziell verkraften.

Nur geht aus den Zahlen der Rentenversicherung leider nicht hervor, wer freiwillig den Job aufgibt, um die freie Zeit zu genießen und wie viele krank oder arbeitslos waren. Deshalb warnen Sozialverbände vor der zum 1. Januar 2012 eingeführten schrittweisen Anhebung des Rentenalters auf 67. Für viele Experten ist die Rente ab 67 schlicht eine versteckte Rentenkürzung.

So sagte beispielsweise Annelie Buntenbach, Vorstandsmitglied im Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB): "Solange die Beschäftigten kaum eine Chance haben, bis 65 zu arbeiten, ist die Rente mit 67 ein reines Rentenkürzungsprogramm." Und SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles forderte bereits 2011, das Renteneintrittsalters erst dann anzuheben, wenn mindestens die Hälfte der 60- bis 64-Jährigen sozialversicherungspflichtig beschäftigt sei. Davon ist man in Deutschland allerdings noch weit entfernt.

Deshalb sind sich Gewerkschaften und Sozialverbände sicher, dass die Rente mit 67 zu Altersarmut führt. So äußerte sich auch Matthias Birkwald von den Linken: "So sicher, wie die Rente mit 67 nicht mehr Jobs für Ältere schafft, so sicher führt sie zu schmaleren Renten und mehr Altersarmut", sagte er.

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