Strukturvertrieb-Insider „Die ersten zwei Jahre waren die Hölle“

Quelle: Collage

Finanzstrukturvertriebe locken Bewerber mit wolkigen Versprechen. Aussteiger zeichnen ein anderes Bild der umstrittenen Branche.

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Worum es genau gehen sollte, das hatte der Kommilitone Jonas nicht verraten. Nur so viel: Viel Geld könne er verdienen bei diesem Job. Der 24-jährige BWL-Student, der in Wahrheit anders heißt, ließ sich locken, in einen Bürobau irgendwo in Niedersachsen. Der Kommilitone, so erzählt es Jonas, habe mit ihm über Geld gesprochen, Immobilien, Aktien. Daran sei er doch auch interessiert. Hier lasse sich damit viel Geld verdienen. Zum Beweis habe er Gehaltsschecks gezeigt. 6.500 Euro im Monat. „Das hat mich schon angefixt“, sagt der Student.

Möglich machen soll das eine Karriere im Finanzstrukturvertrieb. Diese Strukturvertriebe vermitteln Kundinnen und Kunden Finanzprodukte wie Versicherungen oder Fonds. Dafür kassieren sie von den Banken und Versicherungen für jeden abgeschlossenen Vertrag Provisionen. Die Vertriebe sind streng hierarchisch organisiert. Wer neu dazu kommt, fängt auf der untersten Stufe an. Er muss seine Provisionen mit allen über ihm stehenden Vertrieblern teilen. Außerdem geht ein Teil an die Dachorganisation des Vertriebs. (Mehr über das Geschäftsgebaren der „Strukkis“ erfahren Sie in der aktuellen Podcast-Folge der Money Mates.)

Der mit Abstand größte deutsche Strukturvertrieb ist die Deutsche Vermögensberatung (DVAG). Im Fernsehen wirbt Star-Fußballtrainer Jürgen Klopp für die DVAG. Andere große Vertriebe sind die Ergo Pro, ehemals HMI, sowie die Swiss Life Select, in der der ehemalige Strukturvertrieb von Carsten Maschmeyer, AWD, aufgegangen ist. Auch die Vertriebe Tecis, Proventus und Horbach gehören wie Swiss Life Select zum Swiss-Life-Konzern, einem Schweizer Versicherer.

Viele dieser Vertriebe sind gerade auf Personalsuche, trotz Corona. Sie wollen die Krise nutzen, um neue Berater zu gewinnen – zum Beispiel ehemalige Banker, die nach der Schließung der Filiale dringend neue Jobs brauchen. Aber auch Quereinsteiger und Studenten sind gefragt. Gerade an Unis sind die Strukturvertriebe schon lange umtriebig, wie im Fall von Jonas.

Wolkige Versprechen

Zu bieten haben sie potenziellen Bewerbern scheinbar einiges. Klar, da ist das schnelle Geld, das Berufsanfängern in Aussicht gestellt wird: 6.500 Euro, wie bei Jonas, sind eher noch bescheiden. Bei Ergo Pro winken Vertriebler auch schon mal mit Gehaltsschecks über 90.000 Euro im Monat, um potenzielle Neu-Vertriebler zu beeindrucken. Konkurrent DVAG, der dieses Jahr eine große Werbekampagne zur Mitarbeitergewinnung gestartet hat, will als besonders familiärer Arbeitgeber punkten und wirbt mit Flexibilität und Weiterbildungsmöglichkeiten.

Arbeitgeberbewertungen auf Portalen wie kununu scheinen zu bestätigen, dass Strukturvertriebe tolle Bedingungen bieten. 93 Prozent derjenigen, die etwa die DVAG dort bewerteten, empfehlen sie auch weiter. Konkurrent Tecis schneidet mit einer Quote von 97 Prozent sogar noch besser ab und bekam von „Focus“ und kununu dieses Jahr das Siegel „bester Arbeitgeber Deutschlands“ umgehängt – noch vor SAP. Mit Swiss Life Select landete unter den zehn besten Arbeitgebern des Landes noch ein zweiter Strukturvertrieb. Die Bewertungen lesen sich entsprechend: „Gut finde ich alles. Schlecht finde ich nichts. Verbesserungsvorschläge: keine“, wusste etwa jüngst ein Tecis-Mitarbeiter aus Hamburg auf kununu zu berichten.

„Unbegrenzte Verdienstmöglichkeiten?“ Von wegen

Nichts wie hin also? Wer sich mit ehemaligen Strukturvertrieblern unterhält, bekommt schnell Zweifel. Der WirtschaftsWoche berichten sie von schlechter Bezahlung und hohem Druck. 

Von der Aussicht aufs schnelle Geld ließ sich etwa Joschka Birgkit locken. Der ehemalige Elektriker war, wie viele andere, zuerst Kunde bei einem Strukturvertrieb und kam so ins System. In seinem alten Job sei das Geld am Monatsende stets knapp gewesen. Auf Kennenlern-Treffen hätten ihm Vertreter des Vertriebs dann von den unbegrenzten Verdienstmöglichkeiten vorgeschwärmt. Tatsächlich aber blieb das Geld auch dann knapp, als Joschka dort anfing.

Denn um Geld zu verdienen, müssen die Vertriebler Verträge verkaufen. Menschen von Versicherungen oder Fonds zu überzeugen, fällt vielen schwer. Und selbst wenn es gelingt: Die Provisionen, die Einsteiger verdienen, sind im Strukturvertrieb gering. Der Löwenanteil der Courtage, die Kunden beim Abschluss zum Beispiel einer Lebensversicherung zahlen, landet beim Vertrieb selbst und den oberen Hierarchieebenen. Für den Vermittler auf der untersten Stufe fällt wenig ab; Joschka sagt, obwohl er gut verkauft habe, seien ihm anfangs nie mehr als 2000 Euro brutto geblieben. Weil die Vertriebler von Anfang an selbstständig sind, müssen sie davon noch alle Kosten tragen – Spesen, Steuern, Versicherungen. Für Joschka ist es zu viel, er muss sich verschulden. „Die ersten zwei Jahre waren die Hölle“, sagt er heute.

Auch Tobias, der eigentlich anders heißt, arbeitete bis 2018 mehrere Jahre in einem Strukturvertrieb. Er sagt: „Wenn es gut lief, hatte ich 1400 Euro netto im Monat. „ Hinzu kam: Sein Vertrieb habe ein Viertel seiner verdienten Provision einbehalten – als Vorsorge, sollten die Kundinnen und Kunden ihre abgeschlossenen Verträge doch noch stornieren. Diese so genannte Stornoreserve sei in der Branche üblich, liege aber andernorts viel niedriger, so der Familienvater. „Als das Finanzamt mal eine Steuerrückzahlung wollte, konnte ich die nicht auf einen Schlag aufbringen“, erzählt er. Daher habe er seinen Vorgesetzten gebeten, einen Vorschuss aus der Stornoreserve zu bekommen. Doch der hatte anderes im Sinn. „Er sagte mir, dann solle ich halt auf die Weihnachtsgeschenke für die Kinder verzichten.“ Sein Fazit: „Im Vertrieb kümmert sich keine Sau um dich.“ Auch andere ehemalige Vertriebler beklagen die schlechte Bezahlung in der Branche. Schnell viel Geld verdient hat keiner von ihnen.

Der große finanzielle Druck, der entsprechend auf den oft jungen Männern lastet, ist von den Vertrieben gewollt. „Wir sind davon überzeugt, dass man im Vertrieb über leistungsgerechte Bezahlung zur Aktivität motivieren muss“, sagt DVAG-Vorstand Helge Lach. Wer dort neu anfange, bekomme aber ein Fixum von 500 Euro als Minimalabsicherung. Maximal drei Jahre können DVAG-Vertriebler das in Anspruch nehmen. Ganz ohne Druck aber, sagt Lach, funktioniere kein Vertrieb. Das sollte allen klar sein, die sich für einen Job in der Branche interessieren.

Druck gibt es aber nicht nur finanziell, sondern auch psychologisch. Konrad, der von 2016 bis 2019 eine Ausbildung in einem Strukturvertrieb gemacht hat, berichtet von wöchentlichen Treffen aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eines Standorts. „Jeder musste dann reihum berichten, was sein Ziel war und wie viele Abschlüsse er wirklich gemacht hatte.“ Das sei immer unangenehm gewesen, selbst wenn die eigenen Zahlen gut ausgefallen seien. Und wenn nicht? „Dann musste man sich Sprüche anhören.“

Mit Vertriebsranglisten und Wettbewerbern heizten die Finanzvertriebe zudem den Konkurrenzkampf der Selbstständigen untereinander an, berichten mehrere Aussteiger. Um in den Listen nach oben zu kommen, müsste man Freunde und Familie beackern und immer wieder neue Kontakte suchen, denen man Finanzprodukte andrehen könne. Konrad hatte darauf irgendwann keine Lust mehr, er arbeitet jetzt bei einer Bausparkasse. Seinen ehemaligen Arbeitgeber nimmt er aber in Schutz. Klar, es gebe den Druck und auch Fehlanreize. „Aber man kann auch im Strukturvertrieb Kunden ordentlich beraten und dabei trotzdem gutes Geld verdienen.“ 

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BWL-Student Jonas, den sein Kommilitone für einen Finanzstrukturvertrieb gewinnen wollte, sieht das anders. „Ich habe auch erst gedacht, das Geld sei verlockend“, sagt er. Dann aber habe er ein Praktikum in einem Vertrieb gemacht und beobachtet, wie Kunden in überteuerte Fonds gelotst werden. Heute ist er sich sicher: „Ich wäre dort nicht glücklich geworden.“

Mehr zum Thema: Sex-Partys, dicke Autos, windige Produkte: Finanzstrukturvertriebe haben einen schlechten Ruf. Mit Regulierung sollte alles besser werden. Wieso in der Branche trotzdem noch immer vieles läuft wie zu wilden Zeiten.

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