Tauchsieder
Parallelwelten: Eine Jubelveranstaltung für Trump und eine „gated community“ der Reichen Quelle: Getty Images

Politik mit Bodenhaftung

Der Soziologe Bruno Latour deutet Populismus und Massenmigration, Steuervermeidung Superreicher und die Leugnung des Klimawandels als Realitäts-Flucht-Bewegungen: Raus aus den „Gated Communities“ - zurück in die Welt!

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Der Philosoph Hermann Lübbe hat die Globalisierung einmal als glückenden Prozess beschrieben, der vor allem „Modernisierungsgewinner“ hervorbringt: Menschen, die von den nicht erklärungsbedürftigen Vorzügen des technischen Fortschritts überzeugt sind und sich daher als Mitglieder einer mundialen „Zivilisationsökumene“ verstehen. Dahinter stand der zuversichtliche Gedanke, dass mit der Vernetzung einer nicht zuletzt medial eingeebneten, „flachen Welt“ (Thomas Friedman) ein Zuwachs an Rückkopplung einhergeht, ein internationaler Diskursgewinn entsteht.

Seit immer mehr Fremde uns ihre Erzählungen, Erfahrungen und Interessen aufdrängen (können) schlecht bezahlte Fabrikarbeiterinnen, die unter Lärm und Erschöpfung leiden; Inselbewohner, die vom Anstieg des Meeresspiegels betroffen sind; Nomaden die an versandeten Weiden verzweifeln machen alle Menschen weltweit und miteinander die Erfahrung, dass sie niemals zuvor in der Geschichte so umfassend einander ausgeliefert waren wie sie es hier und heute sind, so das Argument. Japanische Devisen sichern Amerikas Konsum-Wohlstand. Die Immobilienpreise in Iowa treiben Island in den Ruin. Kohlekraftwerke in China schmelzen arktisches Eis.

Lübbe hat im Anschluss an Hans Blumenberg darauf verwiesen, wie stark ausgerechnet die Raumfahrt zum planetarischen Selbst-Bewusstsein des Menschen im späten 21. Jahrhundert beitrug: Das Bild der Erde aus der Mondfahrerperspektive zeige, dass wir unauflöslich an unseren Planeten gebunden bleiben und dass kein Problem des Menschen in seinem Habitat (Natur, Klima, Umwelt) delegationsfähig sei. Oder mit Lübbes Worten: Der Mensch hat keine kosmische, nur eine globale Perspektive, weil er im All „nichts als staubige, eisige, höllische oder giftige Wüsteneien“ antrifft und weil wir bei all unseren kosmischen Expeditionen nur einen einzigen Ort entdecken, der „unserer Gattung Aufenthalt von einiger Dauer verstattet, nämlich unsere Erde“.

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Der Clou an diesem Gedankengang: In einer Art ptolemäischer Konterrevolution rückt die Erde wieder in ihre Mittelpunktstellung ein, nicht kosmologisch, versteht sich, wohl aber lebenspraktisch: Weil mit der zunehmenden Erschöpfung natürlicher Ressourcen die Zahl der knappen Güter wächst, für die gilt, dass sie sich entweder kooperativ oder gar nicht nutzen lassen (Wasser, Öl, Klima, Natur), sind wir alle miteinander dazu verdammt, uns als Ökologen zu begreifen, die Sorge tragen für das Wohlergehen ihres Wohnorts für die Erde.

Lübbe hat seine Globalisierungsgedanken (wie Thomas Friedman) 2005 zu Papier gebracht, das ist historisch gesehen ein Wimpernschlag und er hat, allen Schlechtwetternachrichten der vergangenen Jahre zum Trotz, nach wie vor viele Fakten auf seiner Seite, wie die neuen Bücher des inzwischen verstorbenen Statistikers Hans Rosling („Factfulness“) und des Psychologen Steven Pinker („Aufklärung jetzt“) zeigen.

Und doch wirkt Lübbes Zuversicht dreizehn Jahre später beinahe schon obszön. Zumal dann, wenn man sich mit dem neuen Buch des französischen Soziologen Bruno Latour gegen den ruchlosen Optimismus impft, mit dem die Heilsbringer aus dem Silicon Valley uns aus der hellen Gegenwart von Rosling und Pinker in eine blitzblank strahlende Zukunft zu katapultieren versprechen.

Latour macht in seinem „terrestrischen Manifest“ eine ernüchternde Gegenrechnung auf. Er deutet anscheinend unterschiedliche Phänomene wie Populismus und Massenmigration, Kapitalmobilität („Offshoring“) und Steuervermeidung, die wachsende Ungleichheit in vielen Industrieländern und die Leugnung des Klimawandels als Realitäts-Flucht-Bewegungen von Entwurzelten. Der Unterschied bestehe allein darin, dass manchen das Privileg zuteil wird, offiziell erklären zu können, die Welt nicht mehr mit ihren Mitmenschen teilen zu wollen (die Superreichen, die Neo-Nationalisten, Donald Trump als Anführer der Leugner des menschengemachten Klimawandels) während anderen buchstäblich der Boden unter den Füßen weggezogen wird (den Klimaopfern, den Kriegs- und Armutsflüchtlingen, den Dienstleistungsproletariern).

Die Eliten, so Latour, hätten bereits seit den Neunzigerjahren beschlossen, „sich schleunigst von der gesamten Last der Solidarität zu befreien (daher die Deregulierung); dass eine Art goldene Festung für jene Happy Few errichtet werden müsse, die in der Lage wären, sich aus der Affäre zu ziehen (daher die Explosion der Ungleichheiten); und dass der bodenlose Egoismus einer solchen Flucht aus der gemeinsamen Welt nur vertuscht werden konnte, indem sie die Ursache der verzweifelten Flucht schlichtweg negierten (daher die Leugnung des Klimawandels)“.

Der Rückzug der Reichen

Ihr Rückzug in „gated communities“ sei ein Akt der gewollten Weltabgewandtheit, der gesuchten Realitätsflucht und des absichtlichen Vernunftbetrugs Latour bemüht an dieser Stelle das Bild der untergehenden Titanic: Die führenden Klassen schnappen sich die Rettungsboote… und ihr Rückzug aus der Welt der Solidarität und der Fakten sei der Engstirnigkeit der Fake-News-Gläubigen, ihrem reaktionären Sinn fürs Völkische, Identitäre und Grenzwertige vorausgegangen: Das Volk, so Latour, sei von der Vernunft der globalisierungsgläubigen Politik-, Wirtschafts- und Finanzeliten „kaltblütig verraten“ worden. Nun - ob verraten oder nicht: Wer die „Irrationalität“ der Trump-Überzeugten zeiht und entsetzt darüber ist, wie viele Menschen sich „alternative Fakten“ zurechtlegen, sollte zuvor einmal versuchen, sich etwa einen Reim auf den Realitätsgehalt der Finanzmärkte (auf die Irrationalität von Geldgeschäften, die Manipulation der Kreditzinsen) oder auch auf eine postfaktische Politik zu machen, die der Fiktionalisierung der Geld-Welt hilflos hinterher amtiert.

Vor allem aber macht Latour darauf aufmerksam, dass es „völlig nutzlos“ sei, sich „darüber zu empören, dass Leute 'an alternative Fakten glauben', wenn sie faktisch in alternativen Welten leben“. Das Problem sei daher nicht, dass Trumps Anhänger an intellektuellen Defiziten litten, sondern dass es im Verhältnis zwischen Regierenden und Regierten (Elite und Volk) ein „Defizit an gemeinsamer Praxis“ gebe: die Wurzel aller Verrohung.

Um die aktuelle Frontstellung zu verdeutlichen, führt Latour die einfach-dichotomischen Begriffe des „Minus-Globalen“ und „Minus-Lokalen“ ein: Erst habe seit den Siebzigerjahren eine rechts-links-liberale Modernisierungsfront im Namen des Reichtums, der Emanzipation und Zivilisation (Latour: des „Plus-Globalen") das Traditionelle, Gewohnte, Rituelle, Erdverbundene (Latour: das „Plus-Lokale“) geschleift. Dann wurde klar, dass die Globalisierung nicht nur Gewinner kennt („Ungleichheit“), dass der kapitalistische Wachstumszwang seine zerstörerischen Seiten hat („Finanzkrise“, „Klimawandel“) und dass sich mit Wissen, Aufklärung und zivilisatorischem Fortschritt weder der Wohlstandshunger noch die Transzendenzbedürfnisse aller Menschen ausschalten lassen („Armutsmigration“, „Rückkehr der Religion“). Und heute? Heute, so Latour, geht es darum, dass zum „Plus-Lokalen“ kein Weg zurück führt – weshalb Populisten eine Art fiktives Restterritorium erfinden: ein unwirkliches Neverland (die CSU nennt es „Heimat“), aus dem alles „Minus-Globale“ verbannt ist: „Der Islam gehört nicht zu Deutschland“ (aber deutsche Produkte sollen Muslime schon noch kaufen dürfen).

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Gewiss, Latours Essay ist sprunghaft, wie er selbst zugibt, und nicht immer scharf fokussiert. Aber sein Generalbefund, dass sich „die Verfechter der Globalisierung wie die des Zurück“ sich „förmlich an Irrationalismus überbieten“, dass „Sprechblase gegen Sprechblase“ steht und „gated community gegen gated community“ – das ist unmittelbar überzeugend: „Der gemeinsame Horizont ist verschwunden.“ Es fällt Latour daher nicht schwer, Trump sarkastisch als politischen Innovator zu feiern, der beides zugleich repräsentiert: die „Flucht nach vorn“ in Richtung „Minus-Globalisierung“ (Deregulierung, Steuerpolitik für die Reichen, Leugnung des Klimawandels) „ und die "Flucht zurück“ in Richtung „Minus-Lokales“ („Protektionismus“, Chauvinismus – „Make America great again“). Von hier aus, hofft Latour, eröffne sich, in einer Art dialektischem Umschlag, vielleicht ein zukunftsweisender Weg: zurück in die Realität. Gerade weil Trump alle Solidarität aufkündigt und sein Land ermuntert, sich der Welt gegenüber „offshore“ zu situieren und sich aller Verantwortung für die geo-politische Gesamtsituation entzieht, stehe die Ökologiefrage – im Modus ihrer Zurückweisung – vor einem Comeback.

Entsprechend skizziert das „terrestrische Manifest“ die Re-Politisierung der Natur als bodenständig-erdverbundene Geo-Politik: Das Territorium habe angefangen, Teil der Menschheitsgeschichte zu sein: Das Terrestrische stelle im Unterschied zur Natur von früher keinen Kulisse für das menschliche Handeln dar, es tritt dem erkennenden Subjekt nicht als Objekt gegenüber und ist daher aus ökonomischer Sicht auch keine wirtschaftlich ausbeutbare Ressource, sondern es betritt als Akteur die Bühne und ist Teil des menschlichen Handels. Anders gesagt: Der Mensch erschien im Holozän. Und das Terrestrische erscheint im Anthropozän – im Zeitalter, in dem Mensch und Territorium aufeinander verwiesen sind.

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Und so biegt Latours Argumentationsweg am Ende doch in Richtung Hermann Lübbes „Zivilisationsökumene“ ein. Wenn auch mit grünem Anstrich: Illegitim, so Latour, sei die Entwurzelung, nicht die Zugehörigkeit: „Zu einem Boden zu gehören, darauf bleiben zu wollen, weiter Sorge für ein Stück Erde zu tragen, sich daran zu binden“ – all das sei nur „reaktionär“ geworden, weil man sich im Zuge der Modernisierung zu einer dauernden „Flucht nach vorn“ entschieden habe. Das aber ändere nichts an der Bedeutsamkeit, Legitimität und Notwendigkeit von Zugehörigkeit. Was heute not tue, sei eine andere libido sciendi: eine innovationslustige und entdeckerfreudige Abenteuerfahrt, die auf etwas gerichtet ist, was man das zu Fortbewahrende nennen könnte. Oder, in Latours Worten: Es geht um eine Repolitisierung der Natur, um eine Realisierung unserer Erdverbundenheit, um eine gemeinsame Flucht, raus aus den „gated communites“ – um „so kaltblütig und nüchtern wie möglich die erhitzte Aktivität einer endlich von Nahem erfassten Erde zu erkennen“.

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